„Hier bin ich, dort sind die Anderen“

Dass Katja K. heute in Trier Psychologie studiert, ist eine Tatsache entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Denn ob ein Kind in Deutschland den Sprung an eine Universität schafft, bestimmen nicht nur Intelligenz, Einsatz und Talent, sondern in erheblichem Maße auch der Geldbeutel der Eltern. In keinem anderen europäischen Land ist der Aufstieg für Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten so unwahrscheinlich wie in Deutschland. Vor vier Jahren wurde Arbeiterkind.de gegründet, um betroffenen Jugendlichen Rückhalt und Unterstützung zu bieten. Seit einem Jahr gibt es auch in Trier einen Ableger der Initiative. Katja ist sich sicher: „Hätte ich damals eine solche Anlaufstelle gehabt, mir wären viele Schwierigkeiten erspart geblieben.“

TRIER. „Bildung geht alle an. Sie ist in unserem rohstoffarmen Land der Schlüssel für den persönlichen Aufstieg, für soziale Gerechtigkeit und ein Leben in Wohlstand.“ Dass die vollmundigen Worte, mit denen die Bundesregierung ihre Bildungsrepublik ausgerufen hat, längst nicht für alle gelten, belegen in verlässlicher Regelmäßigkeit Studien zum Bildungserfolg in Deutschland: Kinder von Ärzen, Anwälten und Juristen haben eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit auf ein Studium als Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten. Jene Arbeiterkinder, die sich dieser Gesetzmäßigkeit nicht beugen wollen, müssen auf ihrem Weg nach oben viele Hürden nehmen; nicht nur finanzielle Probleme gehören dazu, sondern auch Selbstzweifel, Verunsicherung und fehlende Unterstützung.

Katja war eines der Kinder, die qua Geburt nicht prädestiniert sind, akademische Würden zu erlangen. Als älteste von sechs Geschwistern wuchs die 25-Jährige in Konstanz am Bodensee auf. Die Mutter: Bäckereifachverkäuferin. Der Vater: Gießermeister. Nach der Hauptschule findet die 15-Jährige zunächst keine Ausbildungsstelle, „zu einem großen Teil wohl auch, weil ich schon damals weiter zur Schule gehen wollte, um anschließend zu studieren“. Bis sie sich an der Münchener Universität für ein Studium der Bioprozesstechnik einschreiben konnte, musste Katja viele Hürden nehmen – nicht alle davon ausschließlich finanzieller Natur: „Als ich auf das Gymnasium gewechselt bin, war das für meinen Vater sehr schwer zu verkraften“, erzählt sie. „Von vielen Seiten habe ich damals Sprüche gehört, nach dem Motto: Die Studentin ist jetzt was Besseres. Ich habe mich manchmal regelrecht als Klassenverräterin gefühlt.“

Zu diesem Zeitpunkt rutschen ihre Eltern in Hartz IV. „Das Geld hat einfach überall gefehlt, von Schulbüchern bis Busfahrkarten, von Klassenfahrten ganz zu schweigen.“ Schnell merkt sie in Gesprächen, dass auch subtilere Grenzen verlaufen: „Außer mir gab es in dieser Schule nur ein weiteres Kind aus einem Arbeiterhaushalt“, erzählt Katja. „Die anderen hatten Ärzte, Anwälte und gehobene Angestellte als Eltern.“ Damals stellt sich ein Gefühl ein, dass Katja noch lange auf ihrem Weg begleiten sollte: „Hier bin ich, dort sind die Anderen – und dazwischen verläuft eine unsichtbare und unüberwindliche Grenze. Da habe ich mich zum ersten Mal als Arbeiterkind gefühlt.“ Nicht nur gegen die eigenen Zweifel, sondern auch gegen die der Umwelt musste Katja sich behaupten.

Es geht nicht darum, dass jeder Schüler studieren soll

„In der Zeit, in der meine Eltern Hartz IV bezogen haben, mussten auch wir Kinder im Arbeitsamt vorsprechen und uns ‚beraten‘ lassen – wahrscheinlich hatten die Berater Angst, dass wir nach der Schule auch gleich in die soziale Sicherung gleiten“, sagt sie mit einem bitteren Lächeln. „Als der Sachbearbeiter gehört hat, dass ich auf ein Gymnasium gehe, hat er mir nahegelegt, dass eine Ausbildung doch sicher besser für mich wäre. Das Ganze geschah in Gegenwart meines Vaters und war natürlich alles andere als angenehm für mich.“ Bis in ihr Studium hinein ist diese Verunsicherung prägend. „In Massenvorlesungen mit Hunderten von Studenten habe ich mich über drei Semester nicht in die vorderen Reihen getraut: Weil ich Angst hatte, der Professor könnte ausgerechnet mich etwas fragen, das ich nicht beantworten kann.“

Katja erzählt diese Geschichte am Stammtisch der Trierer Gruppe von Arbeiterkind.de, der einmal im Monat stattfindet. Sie erntet Lachen, aber auch wissendes Nicken: Einige der hier Versammelten haben selbst ähnliche Erfahrungen gemacht, alle sind auf ihre Weise engagiert, diese Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Haushalten zu verbessern. „Das Finanzielle ist dabei nie das größte Problem, das kriegt man irgendwie organisiert“, sagt Verena Hoppe, „viel tragischer ist, wenn man Bildung nicht als selbstverständlichen Wert kennengelernt hat, wenn man verunsichert ist und sich das Studium nicht zutraut“. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin ist eine von drei Initiatoren, die die Trierer Ortsgruppe gegründet haben. „Die Unsicherheit, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, setzt sich dann bei vielen auch während ihres Studiums fort“, erklärt sie. „Das sind ganz profane Dinge, dass man zum Beispiel nicht weiß, wie man seinen Professor anreden soll, was man im Rahmen einer Sprechstunde eigentlich fragen darf und wofür die Abkürzungen c.t. und s.t. stehen.“

Arbeiterkind.de ist eine Initiative, die Kinder nicht-akademischer Herkunft ermutigen will, als erste in ihrer Familie ein Studium aufzunehmen. „Es geht nicht darum, dass jeder Schüler studieren soll“, erklärt Verena Hoppe, „es geht um Chancengleichheit bei der Wahl“. Ein Zustand, von dem die Bildungsrepublik seit Jahrzehnten fast unverändert weit entfernt ist: Von hundert Akademikerkindern nehmen 71 ein Hochschulstudium auf; ihnen gegenüber stehen lediglich 24 von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten, die den Weg an die Uni finden. In keinem anderen OECD-Land wird der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft bestimmt wie in Deutschland. Arbeiterkind.de will mit niedrigschwelligen Angeboten Abhilfe schaffen, um zumindest punktuell den systemischen Benachteiligten entgegenzuwirken. Der monatliche Stammtisch steht allen Interessierten und Betroffenen offen, außerdem werden unter Mailadresse trier@arbeiterkind.de unbürokratisch Fragen beantwortet. „Hier erreichen uns am häufigsten praktische Fragen zur Studienfinanzierung“, erklärt Verena Hoppe.

Aber auch spezielle Anfragen werden an die ehrenamtlichen Ratgeber gerichtet: „Wir hatten den Fall einer Schülerin, die unbedingt in das Internat Schloss Salem wollte und wissen musste, was der beste Weg sei. Bei so etwas sind wir dann natürlich auch erstmal überfragt“, räumt sie ein. Über das bundesweite Netzwerk von Arbeiterkind.de habe sich dann aber ein Absolvent des Elite-Internats gefunden, der sich mit der Schülerin getroffen und sie beraten habe. Die Netzwerkbildung, das gegenseitige Helfen, die Tipps, Ratschläge und Kontakte – die Instrumente, mit denen die standesbewussten Burschenschaften und Verbindungen sich die Pfründe sichern, werden so auch für jene nutzbar gemacht, denen der Weg nach oben sonst sehr wahrscheinlich versperrt wäre. „Ein solches Netzwerk funktioniert natürlich umso besser, je mehr Leute mitmachen“, erklärt Oliver Wolf, selbst Arbeiterkind, Doktorand der Rechtswissenschaften und Mit-Initiator der Trierer Ortsgruppe.

Nach drei Semestern hat Katja ihr Studienfach gewechselt und sich für Psychologie eingeschrieben. „Das Fach, dass ich schon seit meiner Kindheit immer studieren wollte. Ich hätte mich aber nie getraut, das auszusprechen. Erst duch die Erfahrungen in meinem ersten Studiengang habe ich begriffen, dass ich das durchaus schaffen kann.“ Kürzlich hat sie im Internet gesehen, dass es mittlerweile auch eine Arbeiterkind-Ortsgruppe in ihrer Heimatstadt gibt. Sie ist überzeugt: „Hätte ich damals diese Anlaufstelle gehabt, mir wären viele Schwierigkeiten erspart geblieben“. Der Vater empfindet mittlerweile Stolz für seine Tochter mit dem unwahrscheinlichen Werdegang. „Am liebste wäre es ihm jetzt, ich würde anschließend noch promovieren“, sagt Katja. „Wenn schon, denn schon.“

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