Ein neuer Dante entsteht

Während Kulturinstitutionen, die lange Jahre selbstverständlich waren, diskutiert und in den Strudel einer ausgereiften Bestands- und Legitimationskrise hineingezogen werden, setzt ein emeritierter Romanistikprofessor der Trierer Universität in der Ruhe einer Altbauwohnung im Umkreis von Triers berühmtester Barockkirche sich für die Vermittlung literarischer Schätze ein. Zur Frankfurter Buchmesse im Herbst erscheint der dritte und letzte Band der Neuübersetzung von Dante Alighieris „La Commedia“ („Die Göttliche Komödie“) von Hartmut Köhler.

TRIER. Vor genau fünf Jahren teilte der Verlagsleiter von Reclam Stuttgart dem inzwischen doppelt so lang in der Römerstadt wohnenden Romanisten mit, er strebe für sein Unternehmen eine eigene Übersetzung von Dantes berühmtem Epos in hundert Gesängen an. Wer das machen solle, fragte Köhler. Ja, er! Köhler besann sich nicht. Das war ein Auftrag nach seinem Gusto. Weit über ein Jahr brauchte er für jeden Band. Die Teile „Inferno/Hölle“ und „Purgatorio/Läuterungsberg“ sind erschienen, das „Paradies“ bedarf noch einiger Eingriffe, in fünf Wochen gibt es Druckfahnen und weitere Durchsichten folgen. Viel zu tun bis zum Herbst.

Köhler bestätigt, dass es ihm bei seiner Übersetzertätigkeit, für die er Preise erhielt, (keineswegs um diese, sondern) darum geht, Spitzenwerke der Literatur dem Publikum ohne Anbiedern nahezubringen. Was nützt es, Dante als Krone der italienischen Dichter und seine „Commedia“ als Grundlage und frühe Gipfelleistung der Literatur seines Landes nennen zu hören? Ungeachtet eines halben Hunderts deutscher Übersetzungen dürften nicht viele Leser hierzulande das Werk wirklich kennen. Wer wie der Unterzeichnete anhand einer älteren Übersetzung bis ins Paradies vorgedrungen sei, gehöre vermutlich schon zu den seltenen Ausnahmen. Was bedeutet der Ruhm eines Werks unter solchen Voraussetzungen anderes als eine nachgesprochene Formel und ein Ärgernis allen, die mit Klassifizierungen nichts am Hut haben und es als eine lästige bildungsbürgerliche Altlast empfinden, die Lobeshymnen der Altvorderen zu wiederholen?

Aber Dante ist lesenswert, seine Faszinationskraft trägt, seine Darstellung erstaunt. Ja, derb und von unmittelbaren Temperamentsausbrüchen sei sie, da brauche man keinen draufzusetzen, so Köhler.

Die Ausgabe, deren erster Teil inzwischen die Fachmedien durchlaufen hat und mit höchsten Empfehlungen ausgestattet wurde, beansprucht zu lesen mehr Zeit, als die Vorbereitung auf diesen Artikel zulässt. Köhler sieht von einer Nachbildung des Danteschen Versmaßes (Terzinen) ab und entscheidet für eine Prosa, die genau und subtil die gedanklichen Wendungen wiedergibt. Verständlichkeit und Plastizität der Übersetzung werden von der Fachpresse wie von Kunden beispielsweise auf der Amazon-Seite übereinstimmend betont, der am Seitenende mitgelieferte Kommentar als hilfreich und benutzerfreundlich gerühmt („fast noch spannender als das Meisterwerk selbst“, so eine vereinzelte Kundenstimme bei Amazon).

Köhlers Vorgehen ist sich gleich geblieben, wie der Blick auf seine Übersetzungen von Molières „Tartuffe“ und „Misanthrope“ und Corneilles „Cid“ zeigt (auch so ein grandioses Werk, das kaum jemand kenne). Der 1986 in der zweisprachigen Reclam-Reihe erschienene, verschwenderisch kommentierte „Tartuffe“-Band übersetzt die Verse ebenfalls in Prosa. Köhler sagt, er habe die Übertragung als Musterstück für seine Studenten angefertigt, für die Verwendung als Bühnenfassung sei sie nicht sprechbar genug.

Beim stillen Lesen zeigt sie indessen Vorzüge, die der des Französischen mindermächtige Molière-Freund nicht entbehren möchte: sie schmiegt sich den Gedanken des Dichters an wie eine dicht, aber nicht beengend anliegende zweite Haut. Es treten Nuancen zutage, die in Versübersetzungen, formalem Effekt zuliebe, verblassen. Köhlers unprätentiöse Arbeit kommt dem Gemeinten näher, die Charaktertypen schälen sich profilierter heraus. Etwa der Valère als jugendlicher Held und Liebhaber gegenüber dem gleichaltrigen Damis, der, direkt, aufbrausend, den Typus des zornigen jungen Mannes verkörpert. Oder die tartuffomane Mutter Pernelle, in Köhlers Prosa weniger ungestüm loslegend als anderswo, dadurch aber eben auch noch die Dame von Welt, die Distanz dadurch ausdrückt, dass sie ihre Kritik mit Wendungen durchsetzt, die überbrücken und hinhalten. Weniger Pointe ist hier mehr Pointe.

In Gesprächen, die in kulturell interessierten Privathäusern derzeit häufig stattfinden, bildet die Krise der Institutionen ein aktuelles Thema. Strömen die Menschen in Sportarenen, wenn sie dort keine Höchstleistung erwarten? Es stimmt, im Sport sind Höchstleistungen einfach messbar. Mit modernen Stoppuhren auf Hundertstelsekunden genau. Um bei Höchstleistungen in Literatur, Musik, Bildender Kunst, Wissenschaft, Schauspiel, Operngesang mitzukommen, bedarf es eines differenzierteren Zugangs. Selbstverständlich gibt es diese Höchstleistungen. Wenn sie aber als elitär verschrien und durch Beliebigkeitsevents mit einfachem Wiedererkennungswert ersetzt werden, geht der gesellschaftliche Konsens über kulturelle Qualität – und am Ende der Sinn jeder öffentlich subventionierten Kultur – verloren. Wir sind diesem Zustand nahe.

Wer, so der Professor, dem Maßstab, den die Besten erreichten, sich nicht stellt und nie den lähmenden Selbstzweifel kennenlernte, wird das Beste selber nie erreichen. Im Gespräch werden einige Säulenheilige der aktuellen Literaturszene genannt, die schwerlich eines ihrer Bücher eingereicht hätten, wenn sie die Meisterleistungen der Jahrhunderte je verinnerlicht hätten: Meisterleistungen wie die meisterhaft übertragenen Texte von Molière, Corneille, Calderon, Dante.

Beiträge und Übersetzungen von Hartmut Köhler bei Reclam finden Sie hier.

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