Die Heilige, die Hure

Das erlebt man im großen Saal wirklich nicht oft: Eine populäre Inszenierung verzichtet (weitgehend) auf Klamauk und einfache Lacher, verhandelt ein Thema verhältnismäßig komplex und wird dafür auch noch vom Publikum gefeiert. Dass die Verkettung dieser Umstände ausgerechnet bei Andrew Lloyd Webbers Musical-Gassenhauer „Evita“ auftritt, macht nicht weniger ratlos. Sven Grützmacher inszeniert weit weg von der Kitsch-Keule – soweit das eben möglich ist.

TRIER. „Ansage ist immer schlecht“, knurrt der Kollege, als das Licht schon aus ist, das Publikum konzentriert und Intendant Gerhard Weber noch einmal die Aufmerksamkeit beansprucht, um im fast ausverkauften Saal das neue Thekensystem zu erklären. Den Tiefpunkt des Abends hat das Publikum damit immerhin hinter sich gelassen, denn als der Vorhang sich hebt, geht es steiler bergauf, als man das künstlerisch von einem Musical erwarten würde – vor allem, wenn dessen kommunizierter Anspruch ist, die publikumsträchtige Erfolgsgeschichte der „West Side Story“ fortzuschreiben.

Die Tretminen der Trivialität liegen in dem Werk von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice selbst für das Genre „Musical“ dicht an dicht gesät: Die Lebensgeschichte der unehelich geborenen Eva Duarte, die zur quasi-religiös verehrten „Mutter der Massen“ im Argentinien Peróns aufsteigt und 33-jährig an Krebs stirbt, gleicht einem klebrig-süßen Groschenroman des pan-amerikanischen Traums. Der einfach gestrickte musikalische Hintergrund, der im Wortlauf des Theaters mit „musikalische Evergreens“ noch vorsichtig umschrieben ist, tut sein übriges dazu: Eine Einladung zum Vollgas in die Belanglosigkeit. Was Sven Grützmacher aus dieser Vorlage macht, ist zwar keine revolutionäre Umgestaltung, aber doch eine deutliche Abweichung von dieser Erwartung. So differenziert wie dieses Musical war manches Schauspiel auf der großen Bühne nicht.

Buenos Aires, 1952. Die Nachricht vom ihrem Tod bereitet der südamerikanischen Sorglosigkeit ein jähes Ende: Wo eben noch schwungvoll getanzt wurde, liegen sich jetzt die Trostsuchenden in den Armen, die mit Evita Perón die Identifikationsfigur ihrer nationalen Hoffnungen verloren haben. Auf ihrem gladiolengeschmückten Sarg sitzt rittlings einer, der das alles anders sieht, und für die „große Selbstdarstellerin“ nichts als Häme übrig hat. Als zynischer Kommentator lässt die Figur des Studenten Che (Matthias Stockinger), später als Revolutionär auf Kuba unterwegs und angelegt als Inkarnation des argentinischen Volkes, die Geschichte des kurzen und schnellen Lebens Revue passieren.

Der Weg vom unehelichen Unterschichtenspross bis zu Ikone der „Santa Evita“ ist lang und steinig, er führt über Bettkanten und Bekanntschaften, aus denen die Aufstiegswillige jeweils das herauspresst, was ihr gerade nützlich ist. Bis weit über ihren Tod oszilliert das Evita-Bild zwischen der heiligen Mutter der Nation und einer eigennützigen Hure, die mit der Pose der Volksnähe ihren Vorteil sucht. Schicht für Schicht schläft sie sich bis in die obersten Kreise der argentinischen Gesellschaft empor, bis sie schließlich bei Juan Perón (László Lukács/ Alexander Trauth) angelangt ist, dem ersten Mann im Staate, der auch keine originelleren Anmachsprüche auf Lager hat als das gemeine Volk („Bist du ganz alleine hier? So ein Zufall, ich auch“). Aus dieser Begegnung entwickelt sich das schillernde Politpaar Perón, in deren Gefüge Evita nicht nur zur Gallionsfigur der Sozialpolitik, sondern auch Stichwort- und Ratgeberin des Präsidenten wird, während sie sich nebenbei im Handspiegel das Näschen pudert.

Die Inszenierung beugt dem Missverständnis vor, Evita als eine Art First Lady mit Charity-Ambitionen abzutun – sie spielt eine eigenständige politische Rolle im System des Peronismus, schwört das Volk auf die Politik der Regierung ein und inszeniert sich als Interessenvertreterin von unterprivilegierten Massen, Wohlfahrt und Gewerkschaften. Diese Funktion als unverzichtbaren Pfeiler der Innenpolitik Peróns betont die Inszenierung, wenn sie den Präsidenten als passiven Nebensteher präsentiert, der an Volksgunst einsammeln kann, was Evita übrig lässt. Als Gegenspieler zur Glorifizierung Evitas durch das Volk fungiert Erzähler Che, der die Versprechungen der strahlenden Wohltäterin an der Lebenswirklichkeit des argentinischen Volkes misst und schnell blutige Bekanntschaft mit den behelmten Milizen macht. Denn auch das gehörte zum Peronismus: Unliebsame Opponenten möglichst elegant von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Neben dem Anfang, der verhältnismäßig unentschlossen daherkommt, entwickeln sich Längen vor allem gegen Ende hin, als im Zwiegesang zwischen Juan und Evita die politische Zukunft der von der Krankheit gezeichneten First Lady ausgehandelt wird. Die oftmals sperrig daherkommende Sprache („Ich will Vizepräsidentin sein“ ist ein Satz, der sich auch aus der ausgezeichneten Kehle Kristina Staneks nicht wirklich einnehmend ausnimmt) ist ein Problem, ebenso die ganz elementare Verständlichkeit.

Musical-Profi Matthias Stockinger ist streckenweise der einzige, der es vollbringt, über die Lautstärke des Orchesters hinweg verständlich zu artikulieren, anders die Sänger aus dem Opernfach. Insgesamt tut es dem Musical gut, dass hier ein Choreograph die Feder geführt hat, vor allem in der Inszenierung der Gruppen- und Chorszenen, mit denen das Stück erstmals Fahrt aufnimmt und diese Geschwindigkeit und Dichte auch fast bis zum Schluss durchhalten soll. Sven Grützmacher findet stimmige Bilder, mit denen er die hintergründigen Erzählstränge in Choreographie übersetzt.

Mezzosopranistin Kristina Stanek, die mit der Hauptrolle ihr Debüt am Trierer Theater gibt, überzeugt nicht nur stimmlich, sondern stellt von der knospenden Vorstadtlolita bis zur krebsgezeichneten Präsidentengattin eine Wandlungsfähigkeit unter Beweis, die beeindruckt. Ihre Rollenarbeit an der Figur ist mit ein Grund dafür, dass die Produktion sich aus der eindimensionalen Fläche des Musicals abhebt: Sie verleiht der Figur Brüche, Widersprüche und Unzulänglichkeiten, die eine Identifikation – welcher Art auch immer – schon in der Anlage unmöglich machen.

Erträglich ist „Evita“, weil es so musical-untypisch daherkommt. Statt dem klebrig-süßen Kitsch der großen Gesten hat die Bereitschaft, sich auf eine komplizierte, oft widersprüchliche Thematik einzulassen, die Feder geführt. Nicht hinterfragt wird in der Vorlage von Webber und Rice allerdings das politische System, dessen Ikone sie mit „Evita“ ein Denkmal setzen: Ein nationalistischer Populismus, der ganz offen mit dem europäischen Faschismus liebäugelte. Argentinien als beliebtes Reiseziel der Nazi-Granden nach 1945 hat die Geschichte dieser wechselseitigen Sympathien dann weitererzählt. Obwohl die Trierer Inszenierung sich aus dieser Anlage nicht befreit (Wie auch? Man müsste ein anderes Musical spielen) behandelt sie die Glorifizierung Evitas mit Distanz und macht die Ambivalenz zum Programm.

Dass das Trierer Publikum diesen Weg nicht nur mitgeht, sondern auch mit einem außerordentlich begeisterten Applaus dem Daumen darüber hebt, überrascht. Dem Ensemble, allen voran den Neuzugängen Kristina Stanek und Matthias Stockinger, ist die Erleichterung anzusehen. In dem gleichen Maße glaubte man während des Spiels auch leise Unsicherheit zu verspüren: wenn das seltsam verhaltene Publikum entgegen seiner Gewohnheit so sparsam mit Szenenapplaus umging und nicht noch den flachsten Witz mit tosendem Lachen goutierte.

Dass so wenig gelacht und so herzlich geklatscht wurde, das hat man hier selten erlebt. Wirklich beschweren kann man sich an diesem Abend einzig über das neue Thekensystem.

Weitere Aufführungstermine finden Sie hier.

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.