„Anonym legen viele noch eine Schippe drauf“

Beschimpfungen, Beleidigungen, Drohungen – was sich in Chatrooms, auf Hass-Seiten und in sozialen Netzwerken wie Facebook mitunter abspielt, treibt immer mehr junge Menschen in die Verzweiflung. Seit Jahren weisen Experten auf die wachsende Gefahr des Internet-Mobbing hin, doch wirklich gegensteuern können sie kaum. Die Opfer reagieren oft mit Rückzug, viele leiden noch Jahre später unter den diffamierenden Attacken, denen sie im Netz weitgehend schutzlos und für viele sichtbar ausgesetzt waren. Die 15 Jahre alte Melina* aus Trier-West ist nur ein Fall von vielen. Die Schülerin hat erfahren, was es heißt, via Facebook fertig gemacht zu werden.

TRIER. Als Melina vor einigen Wochen in die Schule kommt, hat sie das Gefühl, dass etwas anders ist als sonst. Die Neuntklässlerin merkt, dass Gruppen von Schülern sich unterhalten und mit dem Finger auf sie zeigen. Sie hört, wie auf dem Schulhof über sie getuschelt und gelacht wird. „Ich wusste gar nicht, was los war“, erzählt sie heute, mit verschränkten Armen und Blick auf den Boden. „Bis mir dann jemand gesagt hat, ich sollte mal auf mein Facebook-Profil schauen.“

Zuhause loggt die 15-Jährige sich in dem sozialen Netzwerk ein – und ist schockiert. Unbekannte haben sich ihr Profil vorgenommen. Statt ihrem Profilbild wurde ein beschämendes Foto eingestellt; in dem, was von ihrem Profil noch übrig ist, ist „Hure“ das schmeichelhafteste Wort. Melina ist der Vorfall immer noch peinlich, darüber reden möchte sie eigentlich lieber nicht. „Das Schlimme ist, dass alle sehen können, was da geschrieben wird“, sagt sie.

In den sozialen Netzwerken fliegen die Beschimpfungen und Drohungen zwischen den Schülern hin und her: „Es herrscht Krieg“, beschreibt eine Schülerin den Zustand, der in Chatrooms, auf Hass-Seiten und in sozialen Netzwerken herrscht. An der Kurfürst-Balduin-Hauptschule, einer Schwerpunktschule für Integration und Medien in Trier-West, ist man sich der Problematik bewusst – und steht ihr trotzdem weitgehend hilflos gegenüber. Vor zwei Jahren, schätzt Schulleiter Eugen Lang, fing es an: Plötzlich standen verärgerte Eltern vor seinem Schreibtisch und wedelten mit ausgedruckten Chat-Protokollen, in denen ihre Kinder beleidigt wurden. „Eltern erwarten, dass wir dieses Problem aus der Welt schaffen können, aber bei Fällen, die sich in der Freizeit der Schüler, nachmittags und abends abspielen, können wir als Schule nicht viel machen“, erklärt er.

Beleidigendes Posting als Auftakt für Konflikte

Durch die Interaktionen der Schüler in Chaträumen und Netzwerken sind die Grenzen von Freizeit und Schule, von Internet und Realität, immer stärker verschwommen. Schulsozialarbeiter Detlef de Graaff findet in Konfliktgesprächen mit Streitparteien häufig heraus, dass die Ursache eines Schulhofstreits in einem beleidigenden Posting liegt. Und dass in die andere Richtung auch Konflikte aus der Pause nachmittags im Internet weiter ausgetragen werden: „Aufgrund des Gefühls von Anonymität legen die meisten dann gerne noch eine Schippe drauf“, so De Graaff; „es ist schockierend, was Schüler teilweise im Internet verbreiten.“

Auch Elmar Esseln, Kriminalhauptkommissar mit den Tätigkeitsschwerpunkten Neue Medien und Internet, ist alarmiert. In der Beratungsstelle der Polizei häufen sich die Fälle von Internet-Mobbing, „obwohl die Dunkelziffer ein Vielfaches der gemeldeten Fälle beträgt“, so Esseln. Er beobachtet, dass die Opfer oft ganz am Ende der Kette stehen und als letzte – wenn überhaupt – erfahren, was über sie verbreitet wird. In diesem Moment sei der Leidensdruck natürlich enorm: „Die Kinder haben ein Gefühl von unendlicher Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie wissen, sie sind jemandem ausgesetzt, der irgendwo an einem Computer sitzt und öffentlich alles über sie verbreiten kann, was er will“, sagt der Polizist.

Melina wollte nach der Manipulation ihres Profils nicht mehr in die Schule gehen. Wenn sie daran zurückdenkt, dass sie vor der „ganzen Welt“ bloßgestellt wurde, steigt ihr heute noch die Röte ins Gesicht. „Natürlich ist das peinlich“, sagt sie und guckt ins Leere. Sie weiß mittlerweile, wer damals ihr Profil manipuliert hat. Verstehen kann sie es nicht: „Wir regeln doch sonst auch alles von Gesicht zu Gesicht“, sagt sie und macht eine lange Pause. „Das ist doch unfair, wenn man sich so gar nicht wehren kann.“ Elmar Esseln bereitet neben dem Leid der Opfer auch noch eine andere Sache Sorgen: Selbst wenn ein peinliches Foto oder ein diffamierender Beitrag von dem Mobber aus dem Netz genommen wird, kann niemand gewährleisten, dass die Inhalte nicht an anderer Stelle gespeichert oder verlinkt wurden, und somit immer noch abrufbar sind. „Auch in diesem Fall stimmt leider: Das Internet vergisst nichts“, so Esseln. „Etwas wirklich für alle Zeiten aus dem Netz zu löschen – das ist eigentlich unmöglich.“

An der Kurfürst-Balduin-Schule ist für die Thematik sensibilisiert. Im offenen Gespräch mit Schülern versucht man den Kindern zu vermitteln, dass auch ihre Aktivitäten im Internet reale Konsequenzen haben. „Die meisten haben überhaupt keine Vorstellung davon, was sie mitunter anrichten“, beklagt Julia Reidenbach, die als Erzieherin mit den Schülern arbeitet. „Man muss aber auch dazu sagen, dass viele Kinder es nicht anders lernen“. Es sei frustrierend, erzählt sie, wenn man mit ansehen müsse, wie das Verhalten von Eltern den Bemühungen der Lehrer geradezu entgegenläuft. Sie weiß von einem Ehepaar, das nach der Trennung eine regelrechte Schlammschlacht im sozialen Netzwerk „wer kennt wen“ ausgetragen hat. Die Kinder, ebenfalls Mitglieder der Plattform, waren Zaungäste, als ihre Eltern sich gegenseitig in aller Öffentlichkeit demütigten. „Wie soll so etwas nicht prägen?“, fragt die Erzieherin.

Polizei setzt auf radikale Aufklärung

Für Julia Reidenbach ist besorgniserregend, dass die Schüler keine andere Möglichkeit sehen, sich zu wehren, als noch härter zurückzuschlagen: „Die Kinder wissen ganz genau, wie sie sich am effektivsten wehtun können“, so Reidenbach, und weiter: „Familie ist in diesem sozialen Milieu ein ganz sensibles Thema. Wenn jemand anfängt, die Mutter eines Mitschülers zu beschimpfen, kochen die Emotionen schnell hoch.“ Die 29-Jährige gehört zu einer Pädagogen-Generation, die selbst im Web 2.0 aktiv ist. Wenn sie mit den Schülern über Facebook diskutiert, kann sie aus einem eigenen Erfahrung-Fundus schöpfen. Anders sieht das bei älterem Lehrpersonal aus. „Auf Informationsveranstaltungen sind teilweise Lehrer dabei, denen man anmerkt, dass sie überhaupt nicht wissen, wovon die Rede ist, wenn es um das Thema Internet geht“, sagt Elmar Esseln. Welche Handhabe hat ein Lehrer, der noch Faxgeräte benutzt, gegenüber einem Siebtklässler, der weiß, wie man sich über Proxy-Server bewegt?

Im Beratungszentrum der Polizei setzt man deshalb auf radikale Aufklärung, auch von Lehrern. „Die meisten Schüler fangen im Alter von sieben oder acht Jahren an, ins Internet zu gehen. In diesem Zeitraum muss man mit der Aufklärung anfangen“, rät Esseln. Radikale Offenheit ist in seinen Augen die beste Prävention gegen Internet-Mobbing. In Informationsveranstaltungen werden Eltern, Lehrer und Schüler gleichermaßen angesprochen, und zwar an allen Schulen. „Internet-Mobbing findet in allen Schulformen statt“, erklärt der Polizist.

Eugen Lang versucht an seiner Schule, das Problem ganzheitlich anzugehen: „Das Phänomen ist nicht Internet-Mobbing, sondern Mobbing. Wenn es uns gelingt, Schülerpersönlichkeiten zu stabilisieren, dann entfällt auch die Notwendigkeit der Schüler, sich untereinander fertig zu machen.“ Das Kollegium versuche zwar, die Schüler individuell zu stärken, es sei jedoch frustrierend zu beobachten, wie schwach die Schule als Sozialisationsinstanz im Vergleich zu Familie und Freunde ist, räumt der Schulleiter ein.

So wie im Fall eines zwölfjährigen Schülers, der sehr stark unter einem Video litt, das auf einmal an der Schule kursierte. Es zeigte seinen Vater, wie er sich in einer Trierer Kneipe seiner Kleider entledigte, gnadenlos betrunken. Bald kannte die ganze Schule das Video, der Leidensdruck des Jungen war so groß, dass er sich an das Kollegium wendete. „Du musst mit deinem Vater darüber reden“, riet man ihm. Nur er könne dafür sorgen, dass das Video verschwindet. Der Junge zögerte lange, bevor er sich an seinen Vater wendete. Der allerdings verstand nicht, womit sein Sohn ein Problem hatte: „Ist doch witzig“, sagt er, und ließ das Video da, wo es war.

* Name von der Redaktion geändert

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