Alles außer gewöhnlich

GewinnerplakatDie Klausuren zu bestehen und die Hausarbeiten rechtzeitig abzugeben – das zählt für die meisten Studenten zu den größten Herausforderungen des Uni-Alltags. Victoria hat schon gewonnen, wenn sie im Hörsaal ankommt. Die 24-Jährige ist seit ihrer Geburt linksseitig gelähmt, für sie ist es normal, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein. Im Bundesdurchschnitt sind etwa acht Prozent der Studierenden chronisch erkrankt oder körperlich oder geistig eingeschränkt – in Trier wären das mehr etwa 1200. Auf die Hindernisse, die sie täglich umschiffen müssen, und die Klischees, die ihnen dabei begegnen, macht noch bis zum 3. Februar eine Ausstellung des Studentenwerks im Foyer der Uni-Bibliothek aufmerksam.

TRIER. Ein flüchtiger Blick zum Mann hinter dem Schreibtisch, Kopfnicken auf beiden Seiten, dann surrt die Glastür. Die junge Frau beugt sich nach vorne und berührt den silbernen Knauf leicht. Die Tür öffnet einen Spalt, fällt zurück ins Schloss. Wieder Surren, wieder Drücken. Die Frau streckt nun ihren rechten Fuß aus und tippt dagegen. „Geht doch“, sagt Victoria, die eigentlich anders heißt, aber ihren Namen nicht veröffentlicht sehen will, und lehnt sich zurück. „Aber sicher“, sagt ihre Betreuerin und schiebt den Rollstuhl aus dem Foyer in die Uni-Bibliothek. Es brauchte nur einige Sekunden und einen zweiten Versuch, bis Victoria sich zu helfen gewusst hat, und dennoch ist die Situation außergewöhnlich. Denn was für andere Studenten eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich die Bibliothek durch ein Drehkreuz zu betreten, ist für die 24-Jährige nicht möglich, weil sie im Rollstuhl sitzt.

„Infantile Cerebralparese“ nennt der Mediziner ihre Krankheit. „Linksseitig gelähmt“, sagt die Studentin. Über ihre Behinderung könne sie nicht grollen. Sie mag sie nicht. Sie hasst sie nicht. Sie ist eben da, die Kraftlosigkeit, die seit ihrer Geburt verhindert, dass sie weiter als ein paar Meter zu Fuß schafft, die schuld daran ist, dass sie ihre linke Hand kaum bewegen kann und dass sie Mimik und Gestik ihres Gegenübers nicht wahrnehmen kann, während sie selbst spricht.

Seit dem Wintersemester 2009 ist die 24-Jährige an der Uni Trier eingeschrieben – für Geschichte aus Interesse und für katholische Theologie aus Überzeugung. Derzeit belegt sie sechs Seminare und Vorlesungen. Obwohl sie ihre Bachelor-Arbeit erst im nächsten Sommersemester abgeben will, konnte sie schon jetzt einige Veranstaltungen vorziehen, um die Studienzeit nicht zu verlängern. In drei bis vier Jahren will sie auch mit dem Master fertig sein. Was dann kommt? Victoria, die sonst lebhaft spricht, zögert. „Mal schauen“, sagt sie, der Blick schweift. Was sie meint, ist, dass sie noch keine Idee hat, welchen Beruf genau sie ergreifen möchte. Dass sie arbeiten gehen wird, steht für sie fest.

Victoria lebt derzeit in einer Wohnung im Studentenwohnheim, nur einige Gehminuten von der Uni entfernt. Ein Zimmer, Bad. Wenige Quadratmeter im Erdgeschoss. Beim Kochen und Aufräumen, beim Pullover ausziehen und beim Schuhe binden helfen ihr entweder ein Pflegedienst oder ein Mitglied des Vereins Treffpunkt am Weidengraben (taw). Weil Victoria ihre linke Hand nur eingeschränkt nutzen kann, braucht sie immer jemanden, der ihren Rollstuhl schiebt, der sie in ein Seminar fährt oder nach der Vorlesung abholt.

AusstellungStudieren mit ihren „besonderen Bedürfnissen“, wie Victoria sagt, sei an sich unproblematisch. Laut Hochschulgesetz sollte es das auch sein. Dort, Paragraph 112a, Absatz 1, verpflichten sich die Universitäten zur „Beratung und Unterstützung von Studierenden mit Behinderung“. So weit, so theoretisch. Praktisch, sagt Victoria, unterschieden sich die Unis stark in der Umsetzung. Trier als Studienort hat die 24-Jährige, deren Eltern in der Nähe von Saarbrücken leben, bewusst gewählt, weil hier gut auf die Bedürfnisse von Studenten mit körperlichen Beeinträchtigungen eingegangen werde: Alle Räume sind barrierefrei zugänglich – dies sei etwa an der Uni in Saarbrücken nicht der Fall – und in die oberen Stockwerke fahren Aufzüge. Schriftliche Klausuren kann sie durch mündliche Prüfungen ersetzen, Bücher aus der Bibliothek bestellt sie online, die ausgewählte Literatur kann sie an der Zentrale abholen. Trotz regelmäßigen Arztbesuchen und Physiotherapiestunden habe sie die erlaubte Fehlzeit von zwei Terminen pro Semester noch nie überschritten. Wenn, ist sie sicher, sei auch das kein Problem, sie könne sich immer an den Behindertenbeauftragten der Uni oder an Mitarbeiter des Studierendenwerks wenden.

Wenn Victoria über ihre Behinderung spricht, scheint alles ganz simpel. Sicher, man müsse sich auf andere verlassen und deren Hilfe einfordern, aber sonst? Kein Problem. Dass das eben doch eine besondere Situation ist, darauf macht die Wanderausstellung „Studieren mit Behinderung oder chronischer Krankheit“ des Dachverbands der Studentenwerke aufmerksam. Die besten Plakate der insgesamt fast 390 Entwürfe von Designstudenten aus ganz Deutschland hängen noch bis zum 3. Februar im Foyer der Uni-Bibliothek. Auf einem der 29 sind in schwarzen Lettern die Namen bekannter Personen gelistet, aber falsch buchstabiert: „Loenarbo da Winci“, „Jon Lennon“, „Wald Disnei“. Unter „Johanes Gudenberg“ steht „unt ich“. Eine Fußnote erklärt den Zusammenhang: „Legastheniker sind durchschnittlich überdurchschnittlich begabt“. Auf einem anderen Plakat sind lange schwarze Striche nebeneinander abgebildet. Ab und an durchbrechen bunte Balken die uniforme Reihe, sie sind quer zu den übrigen schwarzen gezeichnet. „Acht Prozent der Studenten leiden unter einer Behinderung oder chronischen Krankheit“, erläutert ein Satz aus einer Studie des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2012 das schwarzbunte Wechselspiel. Diese acht Prozent, schätzt der Geschäftsführer des Studierendenwerks Trier, sollten auch auf die Moselstadt zutreffen. Bei knapp 15.000 Studenten sind das etwa 1200 mit Behinderung oder chronischer Erkrankung – genaue Zahlen, sagt Andreas Wagner, würden nicht erhoben. Ebenso wenig sei bekannt, ob diese Studenten häufiger das Studium aufgrund der Erkrankung abbrechen müssten.

Auf Victorias Lieblingsplakat prangt ein Ring Mettwurst: „Am Gymnasium haben mir viele Mitschüler unterstellt, aufgrund der Behinderung eine Extrawurst zu bekommen, bevorzugt behandelt zu werden.“ Victoria schüttelt den Kopf. Jetzt, an der Uni, habe sie kaum Probleme mit Vorurteilen. Unter dem Plakat steht „Ich kriege immer eine extra. Aber würde sie mir eigentlich gerne selbst braten!“ Victoria wird nun wieder abgeholt. In wenigen Tagen hat sie Semesterabschlussprüfungen. Wie jeder andere Student muss auch sie dafür lernen.

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