Mit Ex-Eintrachtlern zu neuem Glanz

Neunkirchen im Saarland, ehemals das größte Dorf Deutschlands. Der Verein heißt Borussia. Die goldenen Zeiten, als Eisen floss und Funken im Walzwerk sprühten, sind verblasst. Damals spielte die Borussia in der Bundesliga. Längst wird kein Metall mehr gegossen, und der Klub, einst Stolz einer ganzen Region, dümpelt in den Niederungen des Amateurfußballs vor sich hin. Acht ehemalige Spieler von Eintracht Trier wollen das in den nächsten Jahren ändern. Paul Linz gibt die Kommandos, Dieter Lüders assistiert. Und Nico Patschinski, Catalin Racanel, Fabio Fuhs, Julian Bidon, Daniel Petersch und Johannes Steinbach sollen auf dem Platz dafür sorgen, dass etwas vom alten Glanz der Borussia ins Ellenfeld zurückkehrt.

NEUNKIRCHEN/SIRZENICH. Wer von ganz oben auf der Steiltribüne im Ellenfeldstadion nach unten blickt, weiß, dass Steine leben. Nicht biologisch, aber in der Erinnerung. Es ist ein magischer Ort. Jede Ritze, jede Fuge verströmt den Geist der Zeit. Wie eine Trutzburg des alten Fußballs liegt das Ellenfeld mitten in Neunkirchen. Keine sterile Multifunktionsarena aus Stahl und Glas. Hier wirkte als Trainer die Dortmunder Legende Alfred Preißler, der einst den inzwischen legendären Satz prägte: „Grau ist alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz!“ Hier trotzte die Borussia in den 1960er Jahren den Großen der Zunft, widerstand als kleinste deutsche Bundesligastadt den Angriffen der Kicker aus München, Köln und Hamburg. Wer die Augen schließt und die Steine des Ellenfelds auf sich wirken lässt, kann sie heute noch sehen, die wirbelnden Borussen in ihren schwarz-weißen Hemden.

Im nächsten Jahr feiert das Stadion seinen 100. Geburtstag. 1912 wurde es eingeweiht. Im ersten Spiel traf Borussia Neunkirchen auf eine Auswahl des Infanterie-Regiments 105 aus Straßburg, das damals – noch vor dem ersten Weltkrieg – zum Deutschen Reich gehörte. Es war der 7. April 1912. Viel ist seither passiert. Für manche zu viel. „Borussen-Leo“ musste den finanziellen Kollaps seines Vereins nicht mehr miterleben. Leo Düppré starb 1999. Er war der Fan von Borussia, weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Im Trikot seines geliebten Klubs verteilte er vor jedem Spiel Schokolade an die kleinen Fans. 2003 musste der Verein Insolvenz anmelden. Missmanagement und Misserfolge und ein Schuldenberg von über 500.000 Euro trieben die Borussia in den Ruin.

Acht Jahre sind seither vergangen. Im Ellenfeld wird immer noch Fußball gespielt. In der fünften Liga. Fast scheint es so aus, als schaue die in Eisen gegossene Figur mit dem Ball am Fuß, die neben dem Stadion an die Tradition der Borussia erinnert, wehmütig zurück. Auf den Stehrängen wuchern die Grasbüschel. Es lohnt kaum, für ein paar hundert Zuschauer, die sich im Rhythmus von 14 Tagen im Stadion verlieren, alle 23.000 Plätze penibel sauber zu halten. „Hoch lebe Eisen, hoch lebe Stahl, hoch lebe die Borussia!“ Das war einmal. Es ist ein Schlachtruf ohne Inhalt. Eisen und Stahl sind verschwunden, und vor den Borussen fürchteten sich in den vergangenen Jahren allenfalls die Mitarbeiter von Finanzamt und Berufsgenossenschaft, die auf ausstehende Zahlungen warteten.

„In Neunkirchen ist viel zerstört worden in den letzten Jahren, vor allem an Vertrauen“, sagt Dieter Lüders. Der Blick des ehemaligen Profis von Eintracht Trier, der zwischen 1978 und 1981 für den SVE in der zweiten Bundesliga spielte, geht hinüber zu seinem Freund Paul Linz. 2002 feierten sie gemeinsam ihren wohl größten Triumph. Linz führte die Eintracht nach 21 Jahren Absenz wieder zurück in den Profifußball. Lüders hatte als Geschäftsführer des Vereins seinen Anteil am Aufstieg in die zweite Liga. Sie kennen sich seit der D-Jugend. Vertrauen und gegenseitiger Respekt kennzeichnen die Beziehung seit Jahrzehnten.

An diesem nasskalten Juliabend in Sirzenich hat Linz aber nur Augen für seine Mannschaft. Seit Januar trainiert das Trierer Urgestein die Borussia aus Neunkirchen. Ende Juni verlängerte er seinen Vertrag um weitere zwei Jahre. Im Testspiel gegen den Rheinlandligisten FSV Tarforst sieht Linz einen 2:1-Erfolg seiner Elf. Julian Bidon und Deniz Siga treffen für die Saarländer, Patrik Kasel gelingt das Tor für die Trierer. Linz ist angetan vom Gegner. Immerhin wird der von seinem ehemaligen Spieler Dirk Fengler trainiert. „Er war ja nur ein halbes Jahr bei mir“, sagt Linz, „sonst wäre er bestimmt noch besser als Trainer.“ Scherz beiseite. Linz ist in Neunkirchen angekommen. „Am Anfang wollte ich ja gar nicht, aber dann hat der Vorstand mich überzeugt.“

Parallelen tun sich auf. Auch 1999, nach der Insolvenz von Eintracht Trier, wollte Linz nicht als Trainer beim SVE einsteigen. Zu zerrüttet schien ihm der Verein nach den Skandalen des Trierer „Sonnenkönigs“ Hans-Joachim Doerfert, der den Klub als Präsident in den Ruin getrieben hatte. Linz tat es dennoch, wurde Trainer und stieg drei Jahre später mit der Eintracht in die zweite Liga auf. Ganz ähnlich soll es jetzt in Neunkirchen laufen. „Innerhalb der nächsten beiden Jahre wollen wir aufsteigen. Wenn nicht am Ende dieser Saison, dann eben ein Jahr später.“ Der inzwischen 54-jährige Fußballlehrer will mit der Borussia in die Regionalliga. „Wir haben eine gute Mannschaft mit einer gesunden Mischung aus erfahrenen und jungen Spielern.“

Er selbst hat die Erfahrung eines langen Trainerlebens. Seine Sprüche sind legendär, und er weiß sie anzuwenden. Als Catalin Racanel nach einem angeblichen Foul des Gegenspielers zu lange liegen bleibt, schallt die Stimme von Linz weit über den Platz: „Steh auf, Raca, jetzt pfeift der Schiri keinen Elfer mehr!“ Racanel gehorcht. Wie weiland, als der gebürtige Rumäne unter Linz für die Eintracht auf der linken Seite wirbelte. Racanel ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Von 1994 bis 1998 spielte der heutige 34-Jährige schon einmal für die Borussia. Jetzt will er dort seine Laufbahn beenden. Im Unternehmen des neuen Vorsitzenden Giuseppe Ferraro macht Racanel eine Umschulung, um seine Zukunft nach dem Fußball beruflich abzusichern.

Auch Nico Patschinski ist bei Ferraro untergekommen. Im Januar wechselte „Patsche“ nach nur einem halben Jahr bei der Eintracht von Trier zur Borussia – zu seinem alten Mentor Linz. „Alte Liebe rostet eben nicht“, sagt der Berliner in seiner bekannt schelmischen Art. Heute fährt Patschinski jeden Morgen mit dem Zug von Trier nach Neunkirchen zur Arbeit. Abends wird trainiert. Er wohnt nach wie vor in Pfalzel. Spätestens in zwei Jahren soll Schluss sein. Schluss mit dem Fußball, Schluss mit Trier, Schluss mit Neunkirchen. Patschinski will zurück nach Hamburg, wo er einst für St. Pauli stürmte und mit seinem Tor am 6. Februar 2002 gegen den Weltpokalsieger Bayern München zur Ikone der Pauli-Fans wurde. Dorthin will er zurück – zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin Saskia.

Dass er heuer in den Niederungen des Amateurfußballs lebt, ist für den Lebenskünstler Patschinski kein Problem. „Ich habe das ja alles gehabt, auf der großen Bühne, in ausverkauften Stadien. Heute bin ich 34 und Neunkirchen tut mir gut.“ Am vergangenen Samstag schnupperte er wieder an der großen Bühne. Beim Pokalspiel zwischen der Eintracht und St. Pauli sah sich Patschinski seine beiden alten Vereine an – in seinem abgetragenen Pauli-Trikot. Jetzt will er selbst noch einmal angreifen, der Borussia zusammen mit Linz den Aufstieg schenken. „Und dann ist es auch gut, dann reicht es.“ Linz ist von ihm und Racanel nach wie vor angetan: „Sie können die Mannschaft führen, weil sie die Erfahrung dafür haben.“

Für die jungen Wilden um Fabio Fuhs, die das Trierer Ensemble am Ellenfeld komplettieren, sind Patschinski und Racanel Idole. Idole, mit denen sie jetzt gemeinsam spielen dürfen. „Ich habe heute noch ein Racanel-Trikot aus Zweitliga-Zeiten bei mir im Zimmer“, sagt Fuhs. „Ja, er war für mich ein Idol, als ich in der B-Jugend bei der Eintracht gespielt habe.“ Auch Fuhs ist jetzt in Neunkirchen. Im Winter wechselte der 23-Jährige von der U23 des SVE, deren Kapitän er war, ins Saarland. Fuhs studiert ebenso wie Julian Bidon, Daniel Petersch und Johannes Steinbach in Saarbrücken. Alle vier haben sich für Sportwissenschaft eingetragen, Bidon belegt zusätzlich Betriebswissenschaft.

Ihrer Zeit bei Eintracht Trier trauern sie nicht nach. „Für mich ist das eine neue sportliche Herausforderung, unter Paul Linz trainieren und spielen zu dürfen“, sagt Petersch. Außerdem lasse sich durch die Nähe von Neunkirchen zu Saarbrücken der Sport sehr gut mit dem Studium verbinden. Ehrgeizig sind sie alle. „Wenn der Trainer sagt, dass wir aufsteigen, dann steigen wir auch auf“, ergänzt Fuhs. Den Ruf von Linz als harter Hund kann er bestätigen. „Aber er hat zugleich das Fingerspitzengefühl für jeden einzelnen Spieler, und er ist auf Erfolg programmiert.“

Erfolg. Für Lüders ist der in Neunkirchen untrennbar mit dem neuen Vorsitzenden Ferraro verknüpft. „Das ist ein junger Mann, der ein Unternehmen mit über 100 Mitarbeitern leitet und sich große Ziele gesetzt hat.“ Ferraros Firma „F&R“ ist auf Industriemontage spezialisiert. Der Hauptsitz ist in Neunkirchen, die Geschäftsstelle dort, wo es viel zu demontieren gibt. Mitten im „Pott“, in Gelsenkirchen. Seit April kümmert sich Lüders um das Marketing und die Geschäftsstelle der Borussia. „Wir müssen jetzt zunächst einmal viel Basisarbeit leisten, damit unser Konzept, das auf drei Jahre angelegt ist, auch greifen kann.“ Immer noch hat die Borussia mit Nachzahlungen an die Berufsgenossenschaft und das Finanzamt zu kämpfen. „Das sind natürlich Erblasten, die der heutige Vorstand nicht zu verantworten hat, die jetzt aber beseitigt werden müssen.“

Lüders glaubt an den Erfolg, der mit Paul Linz auch sportlich kommen soll. Und mit den ehemaligen Spielern von Eintracht Trier. „Es ist ja nicht so, dass wir im fremden Revier wildern“, macht Lüders deutlich. „Wir haben vor allem die jungen Spieler aus Trier geholt, weil sie erstens in den letzten Jahren dort gut ausgebildet wurden, und um ihnen zweitens eine neue sportliche Perspektive zu geben.“ Für Lüders ist die Borussia nach wie vor hinter dem 1. FC Saarbrücken die Nummer zwei im Saarland. „Das wollen wir in den nächsten Jahren auch beweisen.“

So leben sie ihren Traum im Ellenfeld – allen voran die Trierer bei der Borussia: Neunkirchen gelingt der Aufstieg in die neue Regionalliga Südwest, Trier verpasst den Sprung in die dritte Liga. In der Saison 2012/2013 hieße es dann wieder: Borussia Neunkirchen gegen Eintracht Trier. Das Leben wäre zurück im Ellenfeld, „Borussen-Leo“ zufrieden – und die Steine des dann 100-jährigen Stadions hätten wieder neue Geschichten zu erzählen. Sofern der Gast beim Blick von der Steiltribüne die Augen schließt.

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