Piraten-Kicker gehen an der Mosel unter
Eintracht Trier hat wieder einmal für eine Überraschung im DFB-Pokal gesorgt: Am Samstagnachmittag bezwang der SVE in der ersten Hauptrunde den favorisierten Zweitligisten FC St. Pauli vor 8457 Zuschauern im Moselstadion mit 2:1 (1:0). Die Treffer für die Gastgeber erzielten Ahmet Kulabas sowie Martin Hauswald. Den zwischenzeitlichen Ausgleich für die Norddeutschen hatte Mahir Saglik besorgt. „Wir sind alle maßlos enttäuscht“, sagte ein sichtlich mitgenommener André Schubert nach turbulenten 90 Minuten. Die Gratulation des Hamburger Trainers ging an den Sieger: „Trier hat verdient gewonnen, weil wir die uns gestellte Aufgabe nicht lösen konnten.“
TRIER. Für gewöhnlich ist das kleine Wörtchen „eigentlich“ im journalistischen Alltagsgebrauch tabu. Schlicht, weil ohne Aussage und rein als Füllbegriff verwendet. Es gibt aber auch Ausnahmen. Denn eigentlich genügt in diesem speziellen Fall die chronologische Aufarbeitung von fünf Minuten, um die ganze Dramatik des Spiels ausreichend zu beleuchten. Als Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus, die in Union mit ihren Kollegen an der Seitenlinie eine schwache Leistung in Trier abgeliefert hatte, um exakt 17.19 Uhr abpfiff, entspannten sich die Herzkranzgefäße aller Zuschauer, nachdem zuvor reichlich Adrenalin ausgeschüttet worden war.
Gut 88 Minuten lang hatte der Außenseiter von der Mosel wie der sichere Sieger ausgesehen. Dann traf Mahir Saglik zum Entsetzen der Trierer Anhänger zum 1:1-Ausgleich, weil Cataldo Cozza zuvor unglücklich über den Ball getreten hatte. Nicht nur Jeremy Karikari war frustriert. „Wir haben alle den Kopf hängen gelassen“, sagte Triers Defensivspezialist unmittelbar nach Spielschluss gegenüber 16vor. Doch Martin Hauswald sorgte schon im Gegenzug dafür, dass die Trierer wieder mit erhobenem Haupt auf die Sensation blicken konnten. Sein trockener Schuss von der linken Seite brachte die erneute Führung für den SVE (89.).
Hätte Jan-Philip Kalla in der Nachspielzeit statt an die Unterkante der Latte ins Tor getroffen, wäre das doppelt tragisch für die Eintracht gewesen. Denn Kalla hätte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf dem Platz stehen dürfen. Nach einem rüden Foul an Kulabas (66.), der den Ball zuvor fair ins Aus gespielt hatte, weil ein Hamburger Spieler verletzt am Boden lag, beließ es Steinhaus bei „Gelb“ für den Paulianer. Dabei wäre „Rot“ die einzig richtige Farbe für den Sünder gewesen. Kallas Lattenknaller bewahrte die Eintracht vor der Verlängerung. Eine Spur ausgleichender Gerechtigkeit lag somit in der Situation, als die Kugel vom Querbalken vor die Torlinie sprang. Für Roland Seitz war es auch das Glück des Tüchtigen, das seiner Mannschaft zu diesem Zeitpunkt hold war. „Etwas davon haben wir heute natürlich auch gebraucht, um dieses Spiel zu gewinnen“, analysierte der Trierer Trainer. Ansonsten zeigte er sich überglücklich ob des Sieges über den Favoriten: „Wer hätte schon gedacht, dass wir den Erfolg im Rheinlandpokal über Koblenz ein paar Wochen später gegen St. Paul sogar noch übertreffen würden?“
Die Trierer Anhänger hatten das zumindest gehofft. Seit Tagen fieberten sie diesem Spiel entgegen. Was einige allerdings nicht davon abhielt, noch vor dem Anpfiff ihrem Unmut mit der Politik des Vorstandes lautstark Luft zu machen. Vor dem VIP-Zelt forderten Mitglieder der Ultras die Aufhebung von Stadionverboten. Aus Protest verzichteten sie anschließend auf die vorgesehene Choreographie zum Spielauftakt.
Die hanseatischen Freibeuter hatten schon am frühen Samstagmorgen die Trierer Innenstadt geentert. Gegen halb zehn bekamen die Anwohner der Theodor-Heuss-Allee und aller umliegenden Straßen ein nicht alltägliches Schauspiel geboten. Mit dem Jolly Roger auf allen möglichen Utensilien und der schwarzen Totenkopf-Flagge als Symbol des etwas anderen Klubs zogen sie in Richtung Stadion. Alles Hupen der Autofahrer auf der Nordallee half nicht: Unbeirrt marschierten die Männer und Frauen vom Kiez zum Schwarzen Tor. Hier und da ein Erinnerungsfoto. Wer weiß schon, wann einen die nächste Reise nach Trier führt?
Den durch und durch intellektuellen Anspruch ihres Vereins untermauerten sogar jene, die gewöhnlich auf Fahnen und markige Sprüche setzen: „In einem Sessel behaglich dumm, sitzt schweigend das deutsche Publikum.“ Das Konterfei von Karl Marx zierte das Transparent der Pauli-Fans. Es war deren Verbeugung an den berühmtesten Sohn der Moselmetropole und auch an die Heimstatt der Gastgeber. Damit sollte es aber auch genug des Guten sein. Denn trotz Kultsänger Helmut Leiendecker, der die Stimmung vor dem Anpfiff noch einmal so richtig aufheizen sollte, waren die Hamburger verbal und gesanglich in der Übermacht. Siegesgewissheit sprühte aus den beiden Blöcken der Gäste. Immerhin spielte hier der Bundesliga-Absteiger und Aufstiegsfavorit aus Liga zwei gegen den Viertligisten aus der Fußball-Provinz.
Lediglich ein paar Minuten dauerte die anfängliche Herrlichkeit der Norddeutschen. Dann schälte sich langsam aber sicher heraus, warum Eintracht Trier als Pokalmannschaft gilt, warum im Tollhaus Moselstadion bereits Europapokalsieger und etliche Erst- und Zweitligisten untergingen. Trier liebt den Pokal, und der Pokal liebt Trier. Immer dann, wenn der Weg auf die große Bühne führt, präsentiert sich der SVE von seiner Schokoladenseite. Und jeder Trainer an der Seitenlinie weiß, was er der Pokalhistorie des heimischen Klubs schuldig ist. Jeder bastelt an seiner eigenen Sensation, an der eigenen individuellen Taktik.
So auch Seitz. Während das Fachmagazin kicker am Freitag noch mutmaßte, der Viertligist spiele mit zwei Stürmern, hatte 16vor zum selben Zeitpunkt bereits konstatiert, dass der gelernte Stürmer Seitz gegen die Hanseaten zunächst einmal auf Torverhinderung setzen werde. Der Oberpfälzer folgte dem konsequent. Ahmet Kulabas lief als einzige Spitze auf. Jeremy Karikari und Denny Herzig spielten die Staubsauger vor der Abwehr, wobei der ehemalige Paulianer Karikari zumindest ansatzweise offensiver orientiert war als der Neuzugang von Dynamo Dresden. Zudem sicherte Martin Hauswald die linke Mittelfeldseite gegen die Angriffsbemühungen der Hamburger ab.
St. Pauli kopf- und ideenlos
Im Ergebnis nahm die taktische Vorgabe des Trierer Trainers den Hamburgern die Luft zum Atmen. Pauli wirkte kopf- und ideenlos. Florian Bruns stand meterweit neben sich und vom sonst so torhungrigen Marius Ebbers war nicht ein Hauch von Gefährlichkeit zu spüren. Vielleicht lag es an den ungewohnten schwarz-rot-gestreiften Trikots, welche die Hamburger mehr spazieren trugen als darin zu schwitzen. Nur im Pokal kommen diese Hemden zum Einsatz, was den Kollegen des Hamburger Abendblatts zur Vermutung veranlasste: „Das ist dann eben nur einmal im Jahr.“ In griffiger Ironie spielte er darauf an, dass St. Pauli in den vergangenen Jahren in schöner Regelmäßigkeit in der ersten Runde des Pokals die Segel hatte streichen müssen.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass einige Paulianer die mutmaßlichen Amateure von der Mosel doch unterbewusst nicht richtig ernst nahmen. Darauf hatte Seitz insgeheim gehofft. Sei es, wie es sei: Die Kicker vom Kiez kamen zu keinem Zeitpunkt wirklich in diesem Spiel um Alles oder Nichts an, während die Trierer ihr Herz von Anfang an fest in beide Hände nahmen.
Schließlich hatten sie nichts zu verlieren. Zwei Klassen trennen die Hanseaten vom SVE – die Favoritenrolle war also klar auf Hamburger Seite zementiert. Als Kulabas jedoch bereits in der 16. Minute das 1:0 für den Außenseiter erzielte, waren die Machtverhältnisse im Moselstadion bereits frühzeitig umgekehrt. Thomas Kraus hatte sich mustergültig auf der rechten Seite durchgesetzt. Der feine Pass in den Rücken der Paulianer hebelte die Abwehr des Favoriten klassisch aus. Trier beherrschte fortan das Geschehen auf dem Platz, und Karikari hätte seine starke Leistung schon in der 34. Minute krönen können. Aus fünf Metern zielte der Deutsch-Ghanaer jedoch über das Tor. Auf der Gegenseite entschärfte André Poggenborg das Spielgerät nach Schuss von Sebastian Schachten (25.)
St. Pauli schien erst nach dem Seitenwechsel das richtige Licht aufzugehen. Im Schongang würde diese Eintracht nicht zu schlagen sein. Das dürfte Schubert seinen Männern in der Kabine schonungslos deutlich gemacht haben. Der Favorit versuchte jetzt zumindest, den Druck zu erhöhen. Zweimal musste Poggenborg eingreifen. Erst gegen Max Kruse (78.), dann beim Fernschuss von Kalla (80.). Beide Male zeigte Triers Torwart seine Klasse auf der Linie. Die größe Möglichkeit für die Hanseaten vergab jedoch Ebbers, der frei vor Poggenborg das Kunststück fertig brachte, aus sechs Metern über das Tor zu schießen. Den unmittelbaren Konter hätte der eingewechselte Chhunly Pagenburg mit dem 2:0 abschließen müssen. Nach feiner Kombination über Karikari und Kulabas traf der Neuzugang aus Erfurt allerdings nur den Pfosten.
So wartete das nervenaufreibende Finale der letzten fünf Minuten auf die elektrisierten Zuschauer. Der Hamburger „Jung“ Karikari kommentierte den Schlussspurt auf seine eigene trockene hanseatische Art. „Wir haben verdient gewonnen, weil wir alle hinter dem Ball besser gearbeitet haben als der Gegner.“ Für ihn als echter Sohn von der Elbe war der Sieg über den alten Verein etwas ganz Besonderes. „Meine ganze Familie hat zugesehen. Ich bin und bleibe Hamburger, deswegen war das heute besonders schön.“ Ein wenig fühlte er mit den Kollegen aus seiner Heimatstadt. „Aber ich glaube nicht, dass die Jungs schon realisiert haben, was heute hier passiert ist.“ Das wird spätestens am 25. Oktober geschehen, wenn Eintracht Trier in der zweiten Runde des Pokals antritt – und St. Pauli am Bildschirm zusehen darf.
Eintracht Trier: Poggenborg – Cozza, Stang, Hollmann, Drescher – Kraus (ab 82. Knartz), Karikari, Herzig, Hauswald – Kuduzovic (ab 63. Pagenburg) – Kulabas (ab 90. Zittlau).
FC St. Pauli: Pliquett – Sobiech, Thorandt, Rothenbach, Kalla – Bruns (ab 58. Daube), Boll (ab 69. Hennings), Kruse, Schachten (ab 46. Bartels) – Ebbers, Saglik.
Tore: 1:0 Kulabas (16.), 1:1 Saglik (88.), 2:1 Hauswald (89.)
Schiedsrichterin: Bibiana Steinhaus (Hannover)
Zuschauer: 8457
von Eric Thielen