Was vom Tage übrig blieb
Eintracht Trier hat die erneute Pokalsensation verpasst. Am späten Dienstagabend unterlag der Viertligist dem Bundesligisten Hamburger SV mit 1:2 (1:0;1:1) nach Verlängerung. Gegen 23 Uhr jubelten die Hanseaten im mit 10.300 Zuschauern ausverkauften Moselstadion. Die Trierer ließen enttäuscht die Köpfe hängen, weil sie den Favoriten am Rande der Niederlage hatten. „Ja, wir sind alle sehr enttäuscht, es tut sehr weh“, sagte Roland Seitz. Triers Trainer zollte seiner Mannschaft hohes Lob: „Wir haben ein sensationelles Spiel für einen Viertligisten abgeliefert.“ Das konnte Thorsten Fink von seiner Elf nicht behaupten. „Ich bin einfach nur froh, dass wir die nächste Runde erreicht haben“, betonte der neue Hamburger Trainer.
TRIER. Es gibt Gesetzmäßigkeiten im Fußball, die unumstößlich sind. Ehern wie ein Schwur, festgemauert wie ein Fundament. Um sie zu kippen, bedarf es mehr als den bloßen Wunsch, entsprungen aus dem Traum. Selbst der unerschütterliche Glaube an sich selbst reicht da nicht aus, obwohl der ja sprichwörtlich Berge versetzen soll. Manchmal liegen Sensationen in der Luft, vielleicht sogar Wunder. Die sind so schön wie eine totale Sonnenfinsternis. Faszinierend für alle, die sie erleben dürfen. Aber auch ebenso selten. Der Fußball macht da keine Ausnahme. Auch nicht im Pokal. Auch nicht in Trier.
Wenn Thomas Drescher nach 120 kraftraubenden Minuten sagt, man könne sich für das Ergebnis nichts kaufen, dann ist das eben nur die halbe Wahrheit. Respekt ist nicht immer in materieller Form zu messen. Die grenzenlose Enttäuschung des Trierer Kapitäns wird alleine dadurch relativiert, dass auch im Moselstadion die Uhren nach den gleichen Mechanismen wie anderswo ticken. Hier die Elitekicker von der Elbe, dort die rangmäßigen Amateure des Viertligisten. Es ist mehr als ein Graben, der sich zwischen beiden Seiten auftut. Es ist eine ganze Welt. Das Jahresgehalt eines einzigen Hamburger Spielers ist höher als der gesamte Etat der Eintracht in zwölf Monaten. Für das monatliche Salär des Roland Seitz hätte sich Thorsten Fink kaum aus dem Sessel erhoben, um an der Alster über einen Vertrag zu verhandeln. Unterschiede also, die sich dann bemerkbar machen müssen, wenn zwei solche Welten aufeinander treffen. Und sei es nur im Ergebnis nach 120 Minuten. Fink mag gespürt haben, wie knapp seine Mannschaft an der Blamage vorbei geschrammt war. „Die individuelle Klasse hat den Unterschied gemacht“, sagte er und schnaufte durch. Ein Lob für die eigene Mannschaft klingt anders.
Kulabas bringt das Stadion zum Kochen
Die Männer in den schwarzen Hosen und blauen Trikots aber hatten gekämpft. Sie hatten den Favoriten am Rande der Niederlage, sie waren nahe dran an der erneuten Sensation. Unerschütterlich war ihr Glaube an die eigene Unverwundbarkeit. Ähnlich jenen Einwohnern des kleinen gallischen Dorfes, die der Übermacht zum großen Verdruss des Giganten stets widerstanden. Was dort der Zaubertrank des Druiden ist, war hier die Erinnerung an ganz große Momente. Wie oft musste Rudi Thömmes in den letzten Tagen jene uralten Geschichten über seine Tore gegen Borussia Dortmund und Schalke 04 erzählen. So oft, dass er es selbst wohl kaum noch hören konnte. Im Fußball sind 13 Jahre mehr als eine Welt, mehr als eine Generation. Und doch speisten jene Erinnerungen die Hoffnung. “Macht es noch einmal, Jungs!”, lautete der Ruf. Wie weiland “Uns Rudi”, wie Sahr Senesie, der Hannover und Bielefeld abschoss, wie weiland auch Harald Kohr, der den Pokalsieger Bayer Uerdingen quasi im Alleingang erlegte – in der Kampfbahn zu Grotenburg.
Zudem sind es just jene Augenblicke in der Karriere eines unterklassigen Fußballprofis, die dem Leben etwas Exotisches und Außergewöhnliches verleihen. Einmal die hochbezahlten Kollegen so richtig ärgern, einmal den ganz Großen das Bein stellen – und das sogar mit Billigung des Schiedsrichters. Ein wenig Eifersucht mag mit als Antrieb in diesem Bestreben liegen, weil die da oben es bis in die Beletage geschafft haben, man selbst aber nicht. In diesem ganz speziellen Fall ist Eifersucht beileibe nicht die schlechteste Triebfeder. Sie kann hier Berge versetzen.
Ahmet Kulabas dürfte so gefühlt haben, als er in der neunten Minute auf den Pass von Fahrudin Kuduzovic wartete. Robert Tesche achtete überhaupt nicht auf den Trierer Stürmer. Eine Alles-oder-Nichts-Situation für Kulabas. Das Tor war frei, als der Ball kam – nur noch Jaroslav Drobny im Wege. Ein kurzer Blick, und Kulabas versenkte das Spielgerät zum 1:0 für den Außenseiter im Netz. Totenstille im Hamburger Block, während der Rest des Stadions geradezu Kopf stand. Da war sie wieder, die Aura des Pokalschrecks von der Mosel, der Unmögliches möglich macht. Nur Wunder dauern in Trier etwas länger. Im Pokal normalerweise 90 Minuten.
Vorausgegangen war die energische Balleroberung von Kuduzovic, der Michael Mancienne mal eben gezeigt hatte, was ein sauberer Körpereinsatz ist. Die Hamburger reklamierten zwar lautstark ein vermeintliches Handspiel des Trierers. Doch weder Schiedsrichter Robert Hartmann noch sein Assistent hatten eine Regelwidrigkeit gesehen. So konnte Kuduzovic Anlauf nehmen. Mancienne blieb einfach stehen. Schon darin zeigte sich der Unterschied in der Einstellung. Kuduzovic nahm Herz und Beine in die Hand, Mancienne hatte keine Lust. Schon das nivelliert den Unterschied zwischen erster und vierter Liga.
Die Sprechchöre der Hamburger Anhänger über “Super Hamburg” klangen nun eher wie Hohn denn wie Unterstützung. “Diesel Hamburg” hätte es eher getroffen. Gerade einmal 50 Pferdestärken, nur noch drei Zylinder, und ein fester Knoten in der Spritleitung – so präsentierte sich der Bundesligist über weite Strecken der ersten Halbzeit. Nichts kam von Hamburg, noch nicht einmal ein laues Lüftchen, geschweige denn eine steife Brise. Heiko Westermann, immerhin ehemaliger Internationaler, trug sein Trikot spazieren. David Jarolim kultivierte seine ohnehin chronische Fallsucht. Die Stürmer Marcus Berg und Heung Min Son waren nicht existent. Der 0:1-Rückstand zur Pause schmeichelte dem hohen Favoriten sogar noch.
Aogo rettet den HSV vor der Blamage
Fink hatte genug vom Alibi-Fußball seiner Mannschaft. Er nahm die völlig indisponierten Jarolim und Mancienne vom Platz. Per Skjelbred und Paolo Guerrero kamen. Zumindest eine Tormöglichkeit seiner Elf wollte Hamburgs neuer Trainer sehen. Die jedoch hatte weiterhin nur der Außenseiter. Weil Pagenburg verletzungsbedingt schon vor dem Seitenwechsel mit Fabian Zittlau tauschen musste, stand die Eintracht jetzt noch tiefer als im ersten Durchgang. Die Konter aber liefen nahezu perfekt. Kuduzovic hätte nach dem Zusammenspiel mit Abelski und Thomas Kraus erhöhen können (56.), ebenso Denny Herzig nach Flanke von Abelski (57.). Die größte Möglichkeit zur frühen Vorentscheidung vergab allerdings Kulabas. Wieder hatte Abelski geflankt. Triers Stürmer war mit dem Kopf zur Stelle, doch Drobny kratzte das Spielgerät mit einem Reflex von der Linie (61.).
Aus dem Nichts schlug der Bundesligist zu. Keine Tormöglichkeit und doch der Ausgleich – da war sie, die Kaltschnäuzigkeit der Bundesliga-Profis. Skjelbred wuchtete den Ball auf den Kopf von Berg, der seinen ersten Arbeitsnachweis gleich mit dem Ausgleich zum 1:1 unterstrich (62.). Die Eintracht aber hatte sich durch die eine Sekunde Unaufmerksamkeit selbst um den Lohn der vorangegangenen Arbeit gebracht. Jetzt schien der HSV sogar Geschmack am Achtelfinale zu finden. Der Druck der Hamburger wurde höher. Sie drückten, sie drängten und schnürten die Trierer in deren Hälfte fest. Seitz brachte Marc Gouiffe à Goufan für Abelski, den bis dahin besten Mann bei der Eintracht. Jeremy Karikari orientierte sich weiter nach vorne. Triers Trainer hoffte auf den einen, den vielleicht entscheidenden Konter.
Als Son und Guerrero in der 90. Minute nach der Flanke von Dennis Diekmann wie Synchronspringer am Ball vorbeiflogen, war klar: Heuer reichten 90 Minuten nicht für das neuerliche Fußballwunder von Trier. Verlängerung im Moselstadion. Karikari eröffnete die Extrazeit mit einer exzellenten Kopfballmöglichkeit. Zittlau hatte geflankt, die Kugel strich knapp am Pfosten vorbei. Wieder konnte die Eintracht in Führung gehen, wieder fehlten nur Zentimeter. Zittlau selbst hatte die nächste Möglichkeit nach Zuspiel von Karikari. Diesmal bekam Drobny die Fäuste an den Ball (102.).
Schließlich erfüllten sich die Gesetzmäßigkeiten des Fußballs dann doch. Dennis Aogo schoss den HSV zum Sieg – in der 110. Minute, mit einem Freistoß, den Oliver Stang an Guerrero verursacht hatte. „Sie waren einfach cleverer als wir“, sagte Drescher. „Aber bestimmt nicht besser.“ Was vom Tage übrig blieb, war der große Respekt aller vor der Leistung des Viertligisten. Heute noch mag Drescher hadern, dass seine Eintracht die großen Möglichkeiten nicht nutzen konnte. Vielleicht auch noch morgen. Übermorgen jedoch dürfte auch bei ihm der Stolz überwiegen. Pokalwunder können hin und wieder auch in Trier etwas länger dauern. Es ist wie mit der Sonnenfinsternis. Nicht allzu oft, aber wenn dann faszinierend schön.
Eintracht Trier: Poggenborg – Cozza, Stang, Herzig, Drescher – Karikari – Kraus (ab 106. Knartz), Abelski (ab 72. Gouiffe à Goufan), Kuduzovic, Pagenburg (ab 45. Zittlau) – Kulabas.
Hamburger SV: Drobny – Westermann, Diekmeier, Mancienne (ab 46. Skjelbred), Aogo – Tesche, Jarolim (ab 46. Guerrero), Rajkovic, Lam – Son (ab 117. Rincon), Berg.
Tore: 1:0 Kulabas (9.); 1:1 Berg (62.); 1:2 Aogo (110.)
Schiedsrichter: Robert Hartmann (Wangen)
Zuschauer: 10.300 (ausverkauft)
von Eric Thielen