„Das Beste, was ich bisher gemacht habe“

Der Wegfall des Zivildienstes wird für die meisten Sozialeinrichtungen Einschnitte mit sich bringen. Worin besteht – oder besser: bestand aber eigentlich die Rolle eines Zivis? Dieser Frage ging 16vor-Mitarbeiter Volker Haaß nach. Einen Tag lang begleitete er den Zivildienstleistenden Marius Heisig bei seiner Arbeit im Leistner-Haus für psychisch Erkrankte in Bernkastel-Kues. Sein Fazit: Die Arbeit mit Hilfebedürftigen ist für beide Seiten ein Gewinn. Eine Reportage.

BERNKASTEL-KUES. Die Lautsprecher der Dart-Scheibe kratzen bei der Anweisung der elektronischen Stimme: „Player two moves on“. „301“ ist das Spiel, es steht 28 zu 31. Marius führt, jetzt ist Petra Lange* am Zug. Sie wirft eine 20, dann eine 8, dann verfehlt sie nur knapp die 3. Marius versucht, das Spiel für sich zu entscheiden, wirft mit dem letzten Pfeil aber eine 14 und nicht die 9, die er gebraucht hätte, um auf die spielentscheidende 0 zu kommen. Schließlich ist Petra wieder am Zug und wirft die 3, sie gewinnt, Marius ist geschlagen. Er lächelt und freut sich mit der Klientin, wie Besucher der Tagestätte für psychisch Erkrankte genannt werden.

Der 22-jährige arbeitet in der Caritas-Einrichtung in Bernkastel-Kues. Gelernt hat er Einzelhandelskaufmann, direkt nach seinem Realschul-Abschluss 2007. Der Einberufungsbescheid kam ihm dann im letzten Jahr ganz gelegen, fühlte er sich doch allzu oft unwohl hinter der Ladentheke und wollte etwas Neues ausprobieren. Sein Dienstbeginn war der 1. Januar diesen Jahres, er gehört damit auf absehbare Zeit zur letzten Kohorte Zivildienstleistender in Deutschland: „Eigentlich hatte ich gehofft, sie würden es beim Bund mit den letzten Zivis nicht mehr allzu ernst nehmen. Aber im Endeffekt ist doch alles genau richtig gelaufen.“ Vor kurzem verlängerte Marius seine Dienstzeit freiwillig um drei Monate.

Die erste Aufgabe besteht für ihn morgens darin, die Klienten von zuhause abzuholen und sie ins Leistner-Haus zu bringen. Eine von ihnen ist Dartspielerin Petra Lange, eine ergraute Mitfünfzigerin mit rosa Bluse. Am Hauseingang drückt sie Marius ihren „Parapluie“ in die Hand, ordnet ihre Sachen, schaut ihn kurz an und fragt dann: „Wo ist eigentlich mein Regen-schirm?“. Vor der Fahrt zur Tagesstätte möchte sie noch „Zigaretten und was zu trinken“ kaufen. Marius antwortet, dass müsse Diddy entscheiden, was Petra Lange sichtlich erzürnt: „Ach, der hat doch nix zu kamellen.“

Diddy, eigentlich Dieter Könen, ist eine Art Gruppenleiter im Leistner-Haus und erster Ansprechpartner für die Klienten. Er hat schütteres Haar, ist adrett gekleidet und spricht mit heller Stimme. Im Jahr 2001 war er Mitgründer der Einrichtung, das Haus errichtete ein gebürtiger Bierbrauer aus Bayern um 1900 herum. Neben der Küche gibt es einen Aufenthaltsraum mit Parkettboden, Stuck an der Decke, einem alten Gussofen und weißem Anstrich. In der Ecke steht ein Ghettoblaster, an der Wand hängen Fotocollagen von Ausflügen ins Phantasialand sowie in den Kölner Zoo. Im ersten Obergeschoss gibt es außerdem noch eine Wohngemeinschaft von vier Klienten; sie ist wie der Rest des Hauses sehr geräumig, es riecht nach alten Zigaretten.

Das Projekt besteht nun schon seit zehn Jahren in der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues. Dabei geht es um mehr als die Betreuung von Menschen, die durch Depression, Schlaganfall oder Drogenmissbrauch in psychische Notlagen geraten sind. Könen spricht vom Prinzip der „nahen Psychiatrie“ und meint damit, dass sich eine Gemeinde selbst um ihre Bedürftigen kümmert, anstatt sie in ein regionales Heim zu verfrachten. „Meiner Erfahrung nach hat sich die Toleranz gegenüber seelischen Erkrankungen in den letzten Jahren erhöht“, sagt Könen.

Nachdem Zivi Marius mit Klientin Petra im Haus angekommen ist, geht’s gleich weiter mit Daniel Fehringer, einem weiteren Klienten, der heute für das Einkaufen zuständig ist. Den Besuchern wird an jedem Tag, den sie in der Tagesstätte verbringen, eine bestimmte Aufgabe zugeteilt, die vom Zubereiten des Frühstücks bis zum Blumengießen reicht. Bei den meisten Tätigkeiten werden sie dabei vom Personal unterstützt, weil ihnen ihre Beeinträchtigungen ein konzentriertes Arbeiten für längere Zeit erschweren.

Die Hausköchin hat sich diese Woche krank gemeldet, daher entscheidet Gruppenleiter Könen über den Speiseplan – heute gibt es Pasta. Marius fährt zusammen mit Daniel zu Aldi und Edeka. Sie kaufen Zucchini, Paprika, passierte Tomaten und Parmesankäse ein. Während Petra und Sven Schmitt, ein weiterer Klient, Zwiebeln und Paprika kleinschneiden, spazieren die anderen auf dem Kueser-Plateau, einem Luftkurort fünf Kilometer vom Leistner-Haus entfernt. Pünktlich kommen sie wieder zurück, Hund Luca zuerst, den Mitarbeiterin Inge Götten aus Málaga adoptierte und der gerade zum Therapiehund avanciert.

Die Pasta schmeckt allen hervorragend, die Basilikum-Kräuter auf der Fensterbank welken derweil weiter vor sich hin. Frank Zeller nimmt sich einen Nachschlag, er trägt einen graumelierten Trainingsanzug und zerschlissene Joggingschuhe. Als er kurz vorher das Haus betritt, sind die restlichen Bescher sichtlich überrascht. „Der ist hier noch nie reingekommen, hat immer draußen gegessen“, verrät Klient Thomas Hoffmann und lächelt dabei. Nach dem Essen steht Frank im Garten und jongliert mit dem Fuß den Kassenbon, bis er ihn drei Mal hochgehalten hat. Dann erzählt er: „Ich lebe jetzt wie ein Bauer, ohne fließend Wasser.“ Danach lässt er sich über die heutige Jugend aus, „ohne Werte, ohne Weltanschauung“, Könen steht derweil vom Gartenstuhl auf und geht ins Haus.

„Am Anfang ist es mir schon schwer gefallen, dass Verhalten der Leute, die hierher kommen, nachzuvollziehen. Vor allem, wenn sie davon erzählen, sich umzubringen, ist es schwer, damit umzugehen“, gesteht Marius ein, legt dann gleich nach: „Man spürt aber relativ schnell, wie freundlich alle sind. Mittlerweile verbringe ich meine Zeit sehr gerne mit diesen Menschen.“ Könen nennt den Zivi seine „helping hand“ die er zur täglichen Unterstützung braucht. Dazu gehören Aufgaben wie Fahrten, Einkäufe, Umzüge aber vor allem der zwischenmenschliche Umgang mit den Klienten, Ausflüge, Gespräche und die ein oder andere gemeinsame Zigarette. Den Bedürftigen soll durch die tägliche Arbeit das Gefühl gegeben werden, dass sie mit ihren seelischen Problemen und ihrem Anderssein nicht allein gelassen werden.

Später am Mittag fährt Marius die beiden Klienten Frank Zeller und Sven Uhrmann wieder zurück zu ihren Wohnungen. Vorher geht´s nochmal bei Edeka vorbei, Frank kauft sich eine Cola und ein Gemüseschnitzel. Auf dem Parkplatz erzählt Sven seine Geschichte, im Gegensatz zu den meisten anderen ist er wegen neurologischer und nicht psychischer Probleme in der Tagesstätte. Das Skorpion-Tattoo auf dem rechten Unterarm lässt vermuten, dass er früher ein harter Junge gewesen ist. Geblieben ist der eiserne Wille: „Ich lasse mich nicht hängen, ich mache weiter.“ Während der Autofahrt unterhält sich Marius mit Sven über Fußball. Marius ist Stürmer und erzählt von einem 9:1-Triumph, Sven hört ihm zu und erinnert sich an seine eigene Zeit als Kicker in der Kreisklasse. Frank arbeitet sich derweil verbal an den Japanern ab und verspricht, nächstes Mal mit dem Fahrrad zum Leistner-Haus zu kommen – er wohnt 25 Kilometer und 500 Höhenmeter entfernt.

Als Marius wieder im Leistner-Haus angekommen ist, läuft gerade das Kontaktcafé, ein Treff von alten und neuen Hausbesuchern sowie den Angehörigen. Der Großteil sitzt im Aufenthaltsraum, einige haben sich im Garten versammelt. Der Arbeitstag von Marius ist nun fast zu Ende, um 15 Uhr fährt er einen Teil der Besucher nach Hause, dann ist Feierabend. Nach seinem Zivildienst möchte er eine Ausbildung zum Erzieher machen. Von seiner derzeitigen Tätigkeit ist er überzeugt: „Der Zivi ist für mich das Beste, was ich bisher gemacht habe.“

*alle Namen der Klienten wurden geändert

Zum selben Thema auch unten stehenden Bericht: Zwischen Hoffen und Bangen

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