„Wir sind erzogen, auf Heilung aus zu sein!“

MichaelClemensKleinNach 18 Jahren als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin I des Trierer Klinikums Mutterhaus der Borromäerinnen tritt Professor Dr. med. Michael Clemens in der kommenden Woche in den Ruhestand. Seinen Patienten bleibt er dennoch erhalten, und ein neues Projekt hat er schon im Blick, wie er im Interview verrät. 16vor-Redaktionsleiter Marcus Stölb sprach mit dem Onkologen über die jüngste WHO-Prognose in Sachen Krebs und ob sich tatsächlich die Hälfte aller Tumorerkrankungen verhindern ließe. Clemens äußert sich zum wirtschaftlichen Druck in Krankenhäusern und dessen mögliche Folgen für Patienten ebenso wie zum Nutzen von Früherkennung und Vorsorgeuntersuchungen. Auch zur neu entflammten Debatte über aktive Sterbehilfe bezieht der 65-Jährige Stellung: Von einer „Riesengefahr“ spricht Clemens und plädiert stattdessen für eine Stärkung der Palliativmedizin und mehr ambulante Hospize.

16vor: Herr Professor Clemens, viele Menschen haben Angst, an Krebs zu erkranken. Die WHO prognostizierte nun einen drastischen Anstieg der Erkrankungen bis 2030. Muss nicht grundsätzlich jeder damit rechnen, dass bei ihm über kurz oder lang ein Tumor diagnostiziert wird?

Professor Michael Clemens: Prozentual werden mehr Menschen an Krebs erkranken. Das liegt insbesondere an der steigenden Lebenserwartung. In der Berichterstattung zur WHO-Prognose wurde aber meistens die altersadaptierte Sicht unterschlagen, dass beispielsweise ab dem 50. Lebensjahr das Risiko, an Krebs zu erkranken, deutlich ansteigt.

16vor: Laut WHO könnte die Hälfte der Krebserkrankungen verhindert werden, etwa durch gesündere Ernährung, Bewegung oder Verzicht auf Tabakkonsum.

Clemens: Das muss man differenzierter sehen. Sicherlich ist es so, dass bei Verzicht auf Tabakkonsum die Zahl der Lungen- sowie Kopf- und Halstumore drastisch abnehmen würde. Aber bei vielen anderen Krebsarten kommt der Genetik doch weitaus größere Bedeutung zu, als Umwelteinflüssen. Nehmen Sie Helmut Schmidt: Natürlich gibt es Raucher, die trotz jahrzehntelangem Rauchen nicht an Lungenkrebs erkranken, aber das geht nur bei einer optimalen genetischen Ausstattung.

16vor: Inwiefern lässt sich denn die eigene genetische Disposition für Tumorerkrankungen bestimmen?

Clemens: Es gibt Möglichkeiten, das eigene Genom sequenzieren zu lassen, und dabei lässt sich auch das individuelle Risiko für bestimmte Erkrankungen analysieren. Aber ich rate davon ab, denn es gibt mehrere Fragen, die sich dann stellen! Stellen Sie sich vor, Sie haben ein hohes Risiko, bauen ein Haus, schließen eine Lebensversicherung ab – dann müssten Sie der Versicherung ihr Risiko mitteilen, mit allen Folgen. Aber es kommt noch etwas hinzu: Was macht man mit dem Wissen um das Risiko, wie geht man damit um? Konkret: Wenn jemand ein höheres Risiko hat, im Laufe seines Lebens an Prostata-Krebs zu erkranken, wie oft untersuchen Sie ihn dann?

16vor: Ein auch unter Ärzten umstrittenes Thema ist der Nutzen der Früherkennungsdiagnostik. Unser beide Kollege, der Mediziner und Journalist Werner Bartens etwa warnt mit einiger Regelmäßigkeit vor Mammographie-Screenings, weil bei diesen viele Tumore entdeckt würden, die von den Frauen nie bemerkt worden wären und auch nicht zum Tod geführt hätten, und weil es häufig Fehlalarm gebe. Teilen Sie diese Kritik?

Clemens: Nein! Nehmen Sie die Spiegelung des Dickdarms. Hierbei können Sie Polypen entdecken. Dieser Polyp ist Grundvoraussetzung für Dickdarmkrebs. Wenn ich den Polypen abtrage, bekommen Sie keinen Dickdarmkrebs. Insofern ist das optimale Früherkennung und auch eine Vorsorgeuntersuchung. Denn es wird ja verhindert, dass ein Tumor entsteht.

Was das Brustkrebsscreening anbelangt haben wir sicherlich das Problem, dass uns eine weltweit klare Datenlage fehlt. Aber klar ist auch: Je mehr Frauen sich einem Screening unterziehen, desto früher werden Veränderungen festgestellt und können Therapien eingeleitet werden, und damit steigen auch die Heilungschancen. Sicherlich gibt es auch mal Fehlalarm, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich eine Frau darüber beklagt hat, dass wir sie untersucht haben. Was hinzu kommt: Die Expertise der Kollegen beim Screening ist immens groß, auch davon profitieren die Patientinnen.

16vor: Als Onkologe haben Sie im Laufe Ihres Berufslebens vielen Patienten nahe bringen müssen, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung bald sterben werden….

Clemens: Da muss ich direkt mal einschreiten! Wenn Sie alle Krebserkrankungen in allen Stadien nehmen, dann werden 50 bis 60 Prozent der Patienten geheilt. Nehmen Sie Diabetes – diese Erkrankung können sie nicht heilen. Oder Bluthochdruck – auch da gibt es keine Heilung, das bekommen sie nur mit Medikamenten richtig in den Griff. Beim Krebs gibt es Heilung!

16vor: Dennoch die Frage: Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen professioneller Distanz und nötigem Einfühlungsvermögen, wenn Sie einem Menschen mitteilen müssen, dass er unheilbar krank ist?

Clemens: Die Empathie mit dem Patienten ist sehr wichtig. Es darf nie Routine sein! Aber man muss dennoch Techniken finden, diese Belastung abends nicht mit nachhause zu nehmen. Das gelingt meistens, aber nicht immer. Wenn ich einen Patienten sehr lange begleitet habe und er mir besonders sympathisch ist, oder jemand stirbt in sehr jungem Alter, dann beschäftigt mich das schon sehr.

16vor: Für manchen Mediziner bedeutet der Tod eines Patienten eine Art Scheitern. Wie gehen Sie damit um, dass auch die beste Medizin ihre Grenzen hat?

Clemens: Das ist ganz schwierig, das sage ich auch immer meinen Studenten und Mitarbeitern. Wir sind erzogen, auf Heilung aus zu sein. Wenn es bei einem Krebspatienten einen Rückfall gibt oder sich sein Zustand verschlechtert, führt das auch dazu, dass man als Arzt das Gefühl hat, versagt zu haben. Damit muss man umgehen lernen.

16vor: Kürzlich hat das belgische Parlament ein Gesetz verabschiedet, dass die aktive Sterbehilfe bei Kindern erlaubt. Hierzulande ist die Diskussion über aktive Sterbehilfe bei Erwachsenen von neuem entbrannt. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu dieser Thematik?

MichaelClemens2KleinClemens: Ich sehe in Deutschland ausreichend Möglichkeiten, Patienten im Sterben so zu begleiten und die Symptome so zu behandeln, dass fast immer Schmerzfreiheit erreicht werden kann. In der aktiven Sterbehilfe sehe ich dagegen eine Riesengefahr! Wer soll wann was entscheiden und mit welchen Mitteln? Wie oft erlebe ich Patienten, die mir sagen, sie wollten nicht mehr leben; dann verbessert sich ihr Zustand und sie sind dankbar, dass sie noch leben. Derselbe Mensch meint zunächst: ‚Ich will unter diesen Umständen nicht mehr leben‘. Was die Gesetzeslage anbelangt, halte ich diese in Deutschland für ausreichend; wir haben ja sogar die Möglichkeit, Opiate einzusetzen, auch wenn diese unbewusst das Leben verkürzen. Schauen Sie sich mal Todesanzeigen an! Wie oft wird dort um Spenden für die Palliativstation oder das Hospiz gebeten! Das zeigt mir, die Menschen sind sehr dankbar, dass es diese Angebote gibt. Wir brauchen noch mehr Palliativmediziner und auch ambulante Hospize!

16vor: Kliniken sind Unternehmen, auch in Krankenhäusern wird ökonomischer Druck auf die Beschäftigten ausgeübt. Können Sie die Sorge von Patienten nachempfinden, die fürchten, Leidtragende dieser Entwicklung zu werden? Etwa indem sie Therapien ausgesetzt werden, obwohl die Heilungschancen bei nahezu null liegen?

Clemens: Es wäre töricht, wenn ich sagen würde, dass es so etwas nicht gibt. Es hängt allerdings sehr vom Fachgebiet ab. Nehmen Sie einen Patienten, dem die Hüfte schmerzt. Man stellt bei ihm eine Arthrose fest. Dann stellt sich die Frage: Wann operieren Sie? Eher früher oder später? In Deutschland haben wir das das Luxusproblem, dass solche Operationen noch bezahlt werden.

Aber bei bösartigen Erkrankungen sehe ich das Problem nicht! Klar können Sie bei Metastasen sagen, diese operiere ich oder nicht. Aber der große Vorteil, insbesondere aus Sicht der Patienten, ist der, dass wir jeden Fall in der Tumorkonferenz besprechen, in der Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen sitzen, vom Chirurgen über den Internisten bis zur Psychoonkologin und vielen mehr. Da sprechen so viele mit, dass es zu einer gewissen Neutralisierung kommt, sodass ich sagen kann, dass Therapien allein aus wirtschaftlichen Gründen in meinem Bereich nicht vorkommen.

16vor: Aber es gibt doch das Phänomen, dass Patienten sich Therapien unterziehen, obwohl die Heilungschancen gen Null tendieren.

Clemens: Sicherlich gibt es das. Aber stellen Sie sich doch nur einmal folgende Situation vor: Ich sage einem Patienten, dass eine Therapie mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit bei ihm nicht anschlagen wird. Er und seine Angehörigen hoffen auf die zehn Prozent. Das ist für mich als Arzt eine ganz schwierige Situation, denn wenn ein Patient sagt, dass er kämpfen will, können sie ihm das nicht verweigern. Der Patient ist autonom! Ich weiß, dass viele Patienten damit Probleme haben, für sich Entscheidungen zu treffen. Häufig heißt es dann: ‚Aber Sie sind doch der Arzt!‘

16vor: Nach vier Jahrzehnten in diesem Beruf – inwiefern hat sich das Bild und Selbstbild des Arztes verändert?

Clemens: Für mich selber hat sich in meiner beruflichen Tätigkeit eigentlich nichts geändert – ich habe versucht, das weiterzugeben, was mir meine akademischen Lehrer mitgegeben haben. Was sich geändert hat, sind die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie. Das macht es auch komplizierter. Was sich ebenfalls geändert hat, sind Herausforderungen im Zusammenspiel mit Mitarbeitern, zum Beispiel in der Pflege oder mit anderen Medizinern. Gerade in kleineren Krankenhäusern arbeiten oft Ärzte, welche die deutsche Sprache noch nicht so gut beherrschen. Das führt dann schon mal zu Kommunikationsschwierigkeiten.

16vor: Viele Patienten sind heute besser informiert, als zu Beginn Ihrer Laufbahn, auch dank des Internets…

Clemens: Das ist so, aber das sehe ich ausgesprochen positiv. Ein Problem ist sicherlich, die Informationen richtig zu bewerten. Wenn Patienten beispielsweise etwas über die ‚mittlere Überlebenszeit‘ bei einer Krebserkrankung lesen, dann ist das nicht dazu geeignet, etwas über ihr individuelles Schicksal vorauszusagen. Problematisch sind auch manche Patientenforen im Netz, weil kleine unseriöse Hersteller diese oft manipulieren, um ihre Produkte anzupreisen.

Aber wie gesagt: Dass Patienten heute besser informiert sind, ist absolut positiv. Im Übrigen gibt es für mich auch keine Unterscheidung in „Schulmedizin“ und „alternative Medizin“. Für mich gibt es nur eine Medizin, und das ist die, die dem Patienten hilft. Und wenn dann auch mal ein gewisser Placebo-Effekt hilft, ist das okay. Es muss die für den jeweiligen Patienten richtige Medizin sein.

16vor: Nach 18 Jahren als Chefarzt im Mutterhaus treten Sie in den Ruhestand. Aber Arzt bleibt man doch sein Leben lang…

Clemens (lacht): Ja sicher, und für Patienten, die weiterhin zu mir kommen wollen, werde ich auch weiterhin da sein. Und vielleicht lässt es meine Zeit dann zu, den Patienten noch stärker aus einer ganzheitlichen Sicht zu sehen und entsprechende Vorschläge zu erarbeiten, die es dem Patienten leichter machen, mit der bösartigen Erkrankung und der daraus entstehenden schwierigen psychischen Situation fertig zu werden.

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