„Wer ist der Schwächste? Die Familie!“

jünemann_6898 (1)Mutter, Vater, Kind – auf diese einfache Formel lässt sich der Begriff „Familie“ heute nicht mehr bringen. Zu vielfältig sind die Lebensformen, ob Mehrgenerationen-, Patchwork- oder Regenbogenfamilie, oder aber Alleinerziehende. Auf seiner Diözesantagung hat der Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) kürzlich über das Thema „Familie? Die Unverwüstlichkeit einer Lebensform!“ diskutiert. Doch ist die Familie wirklich „unverwüstlich“? Was ist überhaupt „Familie“ und was bringt sie aus dem Konzept? 16vor.de hat mit Elisabeth Jünemann über den gesellschaftlichen Wandel und die Zukunft der Familie gesprochen. Die Professorin für Theologische Anthropologie und Ethik im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Fachhochschule in Paderborn hält ein Adoptionsrecht für Homosexuelle grundsätzlich für machbar: „Aus theologischer und soziologischer Perspektive spricht nichts dagegen“.

16vor: Frau Jünemann, wenn wir hier über die Familie sprechen, was ist eigentlich Familie?

Elisabeth Jünemann: Familie ist, so formuliert es der Soziologe Peter Fuchs, „das Funktionssystem der Gesellschaft, das die Funktion der Komplettberücksichtigung der Person übernimmt, ausbaut und stabilisiert“. Im Intimsystem Familie, also die Erweiterung des Zweier-Intimsystems eines Paares um ein oder mehrere Kinder, geht es um die Berücksichtigung der ganzen Person – Körper, Geist und Seele. Das bedeutet, dass in der Familie jeder für jeden da ist für alles, was den anderen interessiert. Da kann ich nicht sagen: Mir gefällt alles an Dir außer Deine Augen, mach sie zu, wenn ich mit Dir rede. Das braucht die Gesellschaft, denn sonst ist keiner für alles da. Familie ist eine Beziehung, die bleibt. Und das funktioniert nur, wenn Liebe im Spiel ist. In der Familie geht es um zweierlei, um Funktionalität und um Liebe. Das macht die Familie zu einem höchst komplexen Gebilde und zu einem höchst fragilen.

16vor: Früher war alles besser, hört man oft. Der Mann ging außerhäuslich einer Erwerbsarbeit nach, die Hausfrau versorgte die Kinder. Inwieweit haben sich die Bedingungen für Familien geändert?

Jünemann: Zugegeben: Ein Blick zurück bestätigt, dass die Lebensgemeinschaft Familie, in vorindustrieller Zeit und auch in der Industriegesellschaft, schon einmal enger und beständiger war. Aber nicht unbedingt nur von selbstloser Liebe gekittet. Mindestens ebenso durch gemeinsame Zwecke und Ziele gestützt. Aber wie immer man zu dem klassischen Modell der Rollenaufteilung in der Familie stehen mag, seine Voraussetzungen sind heute nicht mehr gegeben. Die sozial kontrollierte sittliche und rollenspezifische Reglementierung ist nicht mehr plausibel. Die Aufteilung der Funktionen in der Familie ist heute partnerschaftliche Aufgabe. Ein Mehr an Freiheit, einerseits. Andererseits, weil Freiheit eben nie ohne Risiko zu haben ist, ein Mehr an Konfliktpotenzial: Das Zusammenspiel wird schwieriger, das Ganze labiler.

16vor.de: Wie haben sich die Bedingungen für Familie geändert?

Jünemann: Familie statt Beruf? Diese Entscheidung treffen zunehmend weniger Mütter. Die Risikopotentiale dieses Modells sind zu hoch. Die Erwerbstätigkeit der Mütter sichert heute den Familienunterhalt. Und inzwischen sind auch – vom Familienministerium durch ein berufsabhängiges Elterngeld unterstützt – die sozialen Nachteile nicht von der Hand zu weisen. In der modernen deutschen Durchschnittsfamilie wird Beruf und Familie gelebt. Die Doppelorientierung ist integraler Bestandteil des Lebensentwurfs von Frauen geworden. Die Doppelbelastung auch. Während Frauen sich zunehmend an Familie und Beruf orientieren, orientieren sich Männer auch als Väter weiterhin relativ stärker an der Berufsrolle.

16vor.de: Gibt es denn auch den Mann, der sich an Familie und Beruf orientiert?

Jünemann: Ja. Der wünscht sich eine gleichmäßige Verteilung der Familienarbeit auf beide Partner. Der will auch selbst Erziehungsurlaub nehmen, während seine Frau erwerbstätig ist. Circa 20 Prozent der Männer gehören dazu.

16vor: Das ist nicht viel. Was bedeuten denn die geänderten Bedingungen konkret für die Familien?

Jünemann: Der Balanceakt zwischen Familie und Beruf ist anspruchsvoll. Familie wird zur „Verhandlungsfamilie“: Der Alltag muss verhandelt werden, geplant werden, in eigener Regie hergestellt werden. Gelingt diese Abstimmungsleistung nicht, dann steht die Funktion der Familie auf der Kippe. Aber diese Abstimmung wird immer schwieriger. Denn die einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche Familie und Beruf folgen je eigenen Logiken. So ist das oberste Ziel der Wirtschaft der Gewinn, entsprechend organisiert ist der Arbeitsmarkt. Wer seine Kräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen will oder muss, unterwirft sich Anforderungsprofilen: Mobil, effizient und flexibel soll er sein. Jederzeit soll ihm überall, alles, immer und sofort möglich sein. Wer nicht mithält, verliert.

16vor: Werden Eltern dem Beruf und der Familie gerecht?

Jünemann: Die Zeiten, als sich das Leben, auch das Arbeitsleben, an die Natur anschmiegte, die sind vorbei. Jedem ist jederzeit, alles, immer und sofort möglich. Die Flexibilität hat „Nebenfolgen“. Familien kommen nicht aus ohne Zeitmuster, die mittel- und langfristigen Regeln folgen. Effizienz und Leistung werden zum Maßstab der Eltern, schnell auch für die Kinder. Das Regime Kinderarbeit wird durch das lückenlose Schulregime ersetzt, einem Totalanspruch von 8 bis 18 Uhr und von morgens bis abends. Kindergärten und Schulen werden zu Kaderschmieden für die Wirtschaft.

16vor.de: Was irritiert Familie?

Jünemann: Die Veränderung jener Bedingungen, die einst die Erfüllung der Funktion innerhalb der Familie stützten. Der fragile Zusammenhang von Funktion und Liebe bricht an gesellschaftlichen Veränderungen, die die Familie irritieren. Es geht um die Bedingungen, unter denen Familie gelebt wird. Die haben sich verändert. In der Hauptsache sind das Konfliktpotentiale, die von außen kommen, von den die Familie umgebenden Systemen wie Wirtschaft und Politik, Recht und Bildung … Sie irritieren die Familien in ihrer Solidarität und in ihrer Funktionalität. Je nachdem, wie es mit den Ressourcen der einzelnen Familie bestellt ist, bis zum Scheitern.

16vor.de: Woran und warum scheitern Familien? Ist es die Individualisierung, der Verfall der Werte, der mangelnde Wille, sich zu binden oder füreinander da zu sein?

Jünemann: Wo es nicht möglich ist, Funktion und Liebe zu koppeln, wo die Funktion oder die Liebe unter Druck gerät, wo die Liebe oder die Funktion wegbricht, da gerät das gesamte Gebilde Familie in Not. Es kommt zur Katastrophe. Und diese Katastrophen nehmen zu: Immer häufiger bricht die Liebe, vor allem die zwischen den Partnern. Immer häufiger gelingt es nicht, die Kinder „komplett zu berücksichtigen“ beziehungsweise ihnen zu einem gelingenden Leben zu verhelfen. Familie ist aber nicht reine Gefühlssache. Sie ist ganz stark Funktion. Für die Mitglieder und für die Gesellschaft. Menschen gehen nach wie vor enge Beziehungen ein und brauchen die auch. In der Shell-Jugendstudie 2010 meint der weitaus größere Teil der Befragten, eine Familie zum „glücklich sein“ zu brauchen. Nur wird letztlich ein Großteil der gewünschten Familien nicht gegründet. Ehen werden immer später geschlossen. Immer mehr Menschen bleiben zeitlebens Single.

16vor: Warum sollte die Familie dann noch grundrechtlich besonders geschützt bleiben?

Jünemann: Die Familie ist das eigentliche, was die Gesellschaft schützen soll. Eben wegen der Funktion für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Nirgendwo sonst werden Menschen an Körper, Geist und Seele komplett berücksichtigt. Es gibt eine Diskussion, ob es ein Familien- statt einem Ehegattensplitting geben soll. Das Katholische Büro in Berlin bleibt dabei, die Ehe zu schützen als Institution. Sozialethisch stellt sich jedoch die Frage: Wer ist der Schwächste? Das ist die Familie. Deshalb sage ich: Selbst wenn es dadurch weniger Geld gibt, ist das Familiensplitting wichtiger.

16vor: Muss also Familie nicht zwangsläufig aus leiblicher Mutter, leiblichen Vater und leiblichen Kindern bestehen?

Jünemann: Richtig, es gibt zum Beispiel auch Adoptiv-Familien. Natürlich gibt es Unterschiede zu Patchwork-Familien, Alleinerziehenden und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, aber die entscheiden meines Erachtens (und der systemtheoretischen Definition entsprechend) nicht über das „Familie“ sein. Die Beziehung mit der Funktion der „Komplettberücksichtigung“ steht im Vordergrund. Erschwert wird sie hauptsächlich von außen, von den die Familie umgebenden Systemen …

16vor: Brauchen Kinder Vater UND Mutter?

Jünemann: Ich glaube, es ist gut, wenn Kinder die Möglichkeit haben, beide Geschlechter kennenlernen zu können. Das muss aber nicht immer Vater oder Mutter sein. Dabei sind Sex und Gender wichtig, also das biologische Geschlecht und das Einüben der Geschlechterrolle. Dazu braucht man Vorbilder. Das ist in zweigeschlechtlichen Familien einfacher, aber es ist in eingeschlechtlichen nicht unmöglich. Man muss aber das intime Umfeld erweitern.

16vor.de: Folgern Sie daraus, dass es ein Adoptionsrecht für Homosexuelle geben sollte?

Jünemann: Aus theologischer und soziologischer Perspektive spricht nichts dagegen. Natürlich gibt es Unterschiede, aber die entscheiden meines Erachtens (und der systemtheoretischen Definition entsprechend) nicht über das „Familie“ sein.

16vor: Wie sähen die optimalen Bedingungen für Familien aus?

Jünemann: Auf der unteren Ebene brauchen wir Empowerment, direkte Familienhilfe, die Kompetenzen vermittelt, informiert, berät, begleitet. In der oberen Ebene brauchen wir eine Politik, die die Familie insgesamt stärkt. Für das, was sie leistet. Etwa mit Geld für die Erziehungsarbeit und nicht als Entschädigung für den Arbeitsausfall. Wir müssten so etwas wie eine Familienverträglichkeitsprüfung einsetzen, auf die jede politische Entscheidung geprüft wird, wie es das etwa für die Umwelt gibt: statt einem blauen Engel eine rote Familien. Das wäre ein Zeichen dafür, dass die Familie im Mittelpunkt der Entscheidungen steht, ein Zeichen für den Wert, den wir Familien geben. Die Politiker finden das immer gut, sie setzen es aber nicht durch auf kommunaler, Landes-, Bundes- und Europaebene.

16vor: Wie schätzen Sie die Zukunft der traditionellen Familie ein?

Jünemann: Ich denke, wir müssen das facettenreicher sehen. Familie ist nicht so oder so, sie ist so und so. Das Problem ist, wir haben ein Familienbild, an dem wir festhalten, und versuchen, dass die Familie diesem Bild gerecht wird. Damit zerstören wir Familien. In allen Formen des familiären Zusammenlebens ist es möglich, Kindern ein gelingendes Leben zu ermöglichen, das gut ist.

Extra: Elisabeth Jünemann ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Die gebürtige Koblenzerin hat in Bonn Katholische Theologie sowie Sozialwissenschaften studiert. Bis 1997 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kardinal Höffner Institut für christlich-sozialwissenschaftliche Fragen in Bonn. Seit 1997 ist Jünemann Professorin für Theologische Anthropologie und Theologische Ethik im Fachbereich Sozialwesen an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn.

Das Gespräch führte Mechthild Schneiders.

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