„Es hat sich Einiges im Denken verändert“

Am 11. März 2011 sorgte ein schweres Erdbeben vor der japanischen Ostküste für einen Tsunami, der eine Fläche von mehreren Hundert Quadratkilometern überflutete und tausende Menschen in den Tod riss. Die Welle zerstörte in Fukushima ein Kernkraftwerk, wodurch die Gegend um die Reaktoren kilometerweit verstrahlt wurde. Zum Gedenken an das Unglück bietet das Theater in Kooperation mit 16vor heute Abend eine Sonderveranstaltung an. Wissenschaftsexperte Professor Klaus Fischer (Universität Trier, Fachbereich Philosophie) wird um 19 Uhr im Foyer einen Vortrag zur Verantwortung der Wissenschaft halten. Anlässlich des bevorstehenden Jahrestages sprach 16vor mit seiner Kollegin Hilaria Gössmann, die in Tokyo geboren wurde, Mitglied im Gesamtvorstand der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Trier ist und seit 1995 als Professorin in der Japanologie der Trierer Universität arbeitet, über die Ereignisse der vergangenen 12 Monate.

16vor: Wie haben Sie von der Katastrophe in Japan erfahren?

Hilaria Gössmann: Ich war im Landeanflug auf Tokyo, wo ich mein Forschungsfreisemester verbringen wollte. Kurz vor der Landung wurde der Flug nach Hokkaido umgeleitet. Der Pilot sagte, es sei eine Katastrophe passiert und er könne in Tokyo nicht landen. Dorthin sind wir erst am nächsten Tag geflogen. Das Flugzeug flog so niedrig, dass wir die Schäden durch den Tsunami sehen konnten.

16vor: Wie haben Sie dabei empfunden?

Gössmann: Es war erschreckend. Man weiß ja, wie sonst die Küste von oben aussieht. Das Meer war schlammig. Man konnte nichts Einzelnes sehen aus der Entfernung, sich aber vorstellen, wie viele Menschen dabei zu Schaden gekommen sind. Wir haben am Abend vorher schon die Bilder im Fernsehen gesehen, aber es war etwas anderes, es direkt von oben zu sehen.

Für mich war das Schlimmste die Ungewissheit, wie es den Menschen geht. Zudem hielten sich vor Ort gerade 40 bis 50 Studierende von uns auf. In Zusammenarbeit mit dem Kollegium in Trier und Agnes Schindler vom Akademischen Auslandsamt der Uni haben wir die Studierenden kontaktiert und versucht, so weit wie möglich Hilfestellung zu geben. Manche sind zu Freunden nach Osaka oder noch weiter südlich gefahren, andere sind nach Korea ausgereist und wieder andere haben den Aufenthalt ganz abgebrochen.

16vor: Studierende und Mitarbeiter der Japanologie haben im vergangenen Jahr in Trier fast 40.000 Euro gesammelt. Wie wurden die Spenden eingesetzt?

Gössmann: Das Geld kam der Katastrophenhilfe in der japanischen Präfektur Miyagi zugute, wo eine unserer Partner-Universitäten liegt. Es wurde für den Wiederaufbau und zur Unterstützung der Betroffenen eingesetzt.

Ich bin damals nach Hiroshima gefahren, um von dort aus die ganzen Hilfsaktionen und die Koordination mit unseren Studierenden zu organisieren und mit den Partner-Unis zu sprechen. Von April bis Juni war ich wieder in Tokyo, wo ich mir ein Bild von der ganzen Situation gemacht und zum Beispiel an den drei Anti-Atomkraft-Demonstrationen teilgenommen habe.

16vor: Wie sah die Reaktion der Bevölkerung aus?

Gössmann: Man merkte, dass die Zustimmung immer größer wurde. Beim ersten Mal war die Reaktion der Passanten noch merkwürdig. Beim zweiten Mal hatte am Vorabend der damalige Premierminister Kan ein Akw, das Tokyo am nächsten liegt, abschalten lassen. Damit war eine größere Befürwortung für die Anti-Akw-Bewegung da.

Viele Leute haben zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen. Kinder trugen selbstgemalte Plakate wie „Ich will meine Großeltern in Fukushima wiedersehen“ oder „Ich möchte ein sauberes Meer zurück“. Die Gefühle wurden sehr individuell zum Ausdruck gebracht.

Trotzdem war es kein trauriger Zug. Man war froh, dass man mit Gleichgesinnten zusammen war. Es war etwas Aufmunterndes, das der Anti-Atom-Bewegung Auftrieb gab.

16vor: Glauben Sie, die Katastrophe hat die Einstellung der Menschen dauerhaft beeinflusst?

Gössmann: Das glaube ich schon. Aber es ist ja auch nicht so, dass es vorher keine Anti-Akw-Bewegung gab. Sie war nur sehr regional und nicht national organisiert. Die Präfektur Hiroshima zum Beispiel ist bisher frei von Akws geblieben, weil es da sehr viele Proteste gibt. Diese einzelnen Bewegungen haben jetzt natürlich auch Auftrieb bekommen. Ich denke, am 11. März wird dort viel stattfinden. Auch die Umfragen sagen, dass in Japan die Angst vor Verstrahlung groß ist.

16vor: Wieso war sie es vorher nicht?

Gössmann: Es gab sehr, sehr wenige kritische Informationen. Es war ein Thema, das man totgeschwiegen hat. Durch die Verflechtung von Medien, Politik und Atomlobby hatte man sehr wenig Möglichkeiten, sich eine kritische Meinung zu bilden. Und im Alltag will man es natürlich gerne vergessen. Wir haben dasselbe Phänomen in Trier mit Cattenom. Das ist auch nicht immer das Tagesgespräch von allen.

16vor: Hat in den japanischen Medien ein Wandel stattgefunden?

Gössmann: Je nachdem, welche Medien man verfolgte, konnte man schon von Anfang an wissen, was Sache ist. Gerade im Netz wurde sich sehr kritisch auseinandergesetzt. Es ist ein großer Glücksfall, dass man auf die Massenmedien nicht mehr angewiesen ist.

Twitter wurde auch sehr stark zur Hilfe der Betroffenen des Tsunamis genutzt. Sie darf man nicht vergessen. Man spricht in Deutschland oft nur von der Atomkatastrophe. Es gab eine Dreifachkatastrophe. Es ist wichtig, alles im Blickfeld zu behalten.

16vor: Sie haben wegen den Katastrophen spontan Ihren Lehrplan geändert und ein Seminar und eine Übung zu den Ereignissen in Japan angeboten. Worum ging es da?

Gössmann: Wir haben uns anhand von einzelnen Fallbeispielen die Medien angesehen, um uns ein Bild zu machen. Ein Ergebnis war, was ich auch schon vor Ort beobachtet hatte, dass die großen Anti-Akw-Demonstrationen kaum präsent waren. Und wenn, dann wurden sie eher bagatellisiert. Man hatte in einem Artikel, den wir untersuchten, nur Frauen interviewt und damit die Demo entpolitisiert. Es sollte wohl so wirken, als hätten nur hysterische Mütter daran teilgenommen.

16vor: Schlimme Ereignisse, von denen viele Menschen betroffen sind, schlagen sich auch in der Literatur nieder. Ist auch in Japan so etwas wie eine Katastrophenliteratur entstanden?

Gössmann: Ja. In der Wochenendausgabe der taz wird es einen Beitrag über die japanische Schriftstellerin Yu Miri geben, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich für die Menschen vor Ort einzusetzen und ihnen eine Stimme zu verleihen. Im Frühjahr vergangenen Jahres war sie zusammen mit meiner ehemaligen Doktorandin und Mitarbeiterin Kristina Iwata-Weickgenannt auch zu einem Vortrag in Trier.

Ich erwarte noch Einiges von der schriftstellerischen Seite. Aber ein literarisches Werk entsteht eben nicht so schnell. Der Bestsellerautor Murakami Haruki hat bei einer Preisverleihung in Europa nicht über seine Werke gesprochen, sondern sich zu Fukushima geäußert. Schriftsteller sehen da schon ihre Verantwortung.

Auch in Mangas scheint schon Einiges an Verarbeitung stattzufinden. Kristina Iwata-Weickgenannt, die am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo ist, habe ich zu einer Blockveranstaltung im Sommersemester nach Trier eingeladen, bei der sie eine Lehrveranstaltung über die Darstellung von Katastrophen, insbesondere Fukushima, in der Literatur und Populärkultur macht. Literatur und Filme können eine wichtige Rolle spielen, um die Erinnerung aufrechtzuerhalten.

16vor: Welche Folgen haben die Katastrophen noch nach einem Jahr?

Gössmann: Wie es jetzt weitergeht, ist nach einem Jahr schwer zu beurteilen. Mein Umfeld ist auch nicht unbedingt repräsentativ. Aber ich habe mit sehr vielen Menschen gesprochen und telefoniere auch regelmäßig mit Freunden in Japan und habe schon den Eindruck, dass es einen Umbruch in Bezug auf die Atomkraft und mehr Skepsis gegenüber den Medien gibt. Man macht sich lieber mal im Netz auf die Suche nach alternativen Informationen.

Ich glaube, bei vielen Menschen hat sich Einiges im Denken geändert. Wenn man um sein Leben bangt und in der Folgezeit nicht weiß, was man zu essen kaufen kann, was belastet ist, ob man das Leitungswasser benutzen kann, ist das eine einschneidende Erfahrung, die nicht so ohne Weiteres an einem vorbeigeht.

Das Schlimme war, dass nur auf die angeblich so saubere Atomkraft gesetzt und dadurch die Forschung auf anderen Gebieten vernachlässigt wurde. An der Pazifikseite scheint im Winter sehr, sehr häufig die Sonne. Darum gibt es an meinem Elternhaus Sonnenkollektoren zumindest für die Warmwasserbereitung. Die Möglichkeiten sind da.

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