„Wir sind in allen Schichten vertreten“

Spielhalle3Klein„Warum nicht einmal ausprobieren? Bis zum Termin sind es noch 30 Minuten“, dachte sich Thomas Patzelt (43), bevor ihn der Bann der Automaten aufsaugte. Er warf ein Fünfmarkstück in den Schlitz, die Rädchen drehten sich, eine Musik erklang. Er hatte gewonnen. „Heute ist ein guter Tag, das spüre ich!“, sagte Patzelt sich immer häufiger und steckte längst mittendrin in der Glücksspielsucht. Der Mensch als Homo ludens. An kreativen Ausreden fehlte es nie, seine teure Sucht zu finanzieren und geheim zu halten. Sei es, um als erster am Briefkasten zu sein, um mögliche Rechnungen und Mahnungen abzufangen. Der Schuldenberg wuchs stetig. Hinzu kamen Lügen, jahrelang. Auch sich selbst gegenüber.

TRIER. In der Spielhalle entsteht das Gefühl von unaufdringlicher Geborgenheit und Gastfreundschaft. Ein zweites Zuhause, wenn es privat einmal nicht so rund läuft. „Darf ich Ihnen einen Kaffee, Zigaretten oder noch ein belegtes Brötchen anbieten?“, fragt die nette Servicedame höflich. Abgedunkelte Räume ohne Uhren, bequeme Ledersessel und ein zuvorkommender Service blenden jegliches Empfinden für Raum und Zeit aus. Wie geschaffen für eine kleine Weltflucht vor einem schier unerträglichen Alltag, geprägt von Konflikten und Problemen. Einfach alles Belastende vergessen und positive Glücksgefühle empfangen. Erst Sehnsucht, dann nur noch Sucht.

In einem wachen Moment ist es Thomas Patzelt, als packte ihn jemand an der Schulter und schüttelte ihn. Er öffnet die Augen und sieht die Scherben um sich herum. Game over. Er braucht Hilfe. Zunächst wendet sich Patzelt an sein nahes Umfeld. Verspielt hat er nicht nur ein ansehnliches Vermögen, sondern etwas viel Wertvolleres: kostbare Lebenszeit, Vertrauen und Loyalität. Vier Jahre lang in den Fängen der Sucht, in teilweise kriminelle Betrügereien zur Geldbeschaffung und Lügen verstrickt. Das hat entsprechende Konsequenzen. Seine Beziehung kann dem Vertrauensbruch nicht standhalten, es folgt die Trennung. Freunde sind enttäuscht, wenden sich ab. Der Arbeitgeber schickt umgehend die Kündigung. Der Spieler fühlt sich, als habe er auch sich verloren. „Rien ne va plus?“ Derlei Miseren erleben in Deutschland mehr als 100.000 Menschen und deren Angehörige.

Sarah Rumpolt ist Diplom-Pädagogin und Sozialtherapeutin bei der Suchtberatung „Die Tür“ in Trier. Die Tür steht sowohl für Betroffene als auch für Angehörige offen. Die Beraterin wird mit verschiedensten Fällen konfrontiert: „Es gibt viele Beweggründe, die in die Spielsucht führen können. Jede Geschichte gestaltet sich ganz individuell.“ Ein Risikofaktor für die Abhängigkeit ist neben Ablenkungsalternative und Ersatzbefriedigung beispielsweise ein hohes Sensation-Seeking-Potential – personenabhängiges Erregungsniveau. Als Ziele sind oftmals Erfolgserlebnisse und eine Kompensation der eigenen Emotionen gesetzt. Des Weiteren erklärt sich Rumpolt die Aufrechterhaltung des krankhaften Spieltriebes mit sogenannten positiven beziehungsweise negativen Verstärkern und die somit erlernten Verhaltensweisen. „Die Glücksspielsucht weist von der Symptomatik her ähnliche Anzeichen auf wie eine stoffgebundene Sucht. Der markante Unterschied besteht darin, dass es nicht eine Substanz ist, von der man abhängig ist, sondern ein Verhalten.“ Von einigen Klienten als viel schlimmer empfunden. Auch typische Entzugserscheinungen wie Unruhe, Zittern, Schwitzen, Aggressionen und dergleichen lassen Parallelen erkennen – ebenso die Co-Abhängigkeit, in die sich Angehörige der Betroffenen nicht selten begeben. 2012 fanden insgesamt 67 Leidtragende den Weg zum Erstgespräch in die Trierer Beratungsstelle, darunter 52 Männer. „Doch auch die Anzahl der Frauen steigt“, sorgt sich Rumpolt.

Für pathologische Glücksspieler besteht zwar die Option, sich in Spielhallen und -banken blockieren zu lassen, aber diese Sperrung ist dann nur im jeweiligen Haus gültig, wo sie erfolgte. Eine zentrale Regelung oder eine Identifikationskarte, die auf einen monatlichen Geldbetrag zum Verspielen begrenzt ist, gibt es hierzulande nicht. Einige Experten prangern an, die Wirtschaftsförderung hinsichtlich der Steuereinnahmen stehe eher im Vordergrund als die Suchtprävention. „Guten Tag Herr P.! Geht es ihnen gut? Sie haben uns schon lange nicht mehr besucht. Wir vermissen Sie!“. So klingen Anrufe von Casinos und Spielbanken bei ihren Stammgästen – bei pathologischen Spielern. Vermehrt gibt es einen hauseigenen Chauffeurdienst, um den Gästen die An- und Abreise zu erleichtern. Mancherorts werden zudem Meisterschaften geführt, eine Herausforderung vor allem im Kartenspiel.

Farbenprächtige Lichter, gepflegte Gebäude und die angenehme Atmosphäre laden zum Betreten des Casinos ein. Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Drinnen erklingt die Kakophonie der Münzen einer Auszahlung. Kein freudiges Lachen. Irgendwann spielt man nicht mehr um des Geldes Willen. Mit einem überraschenden anfänglichen Gewinn beginnt oftmals die Odyssee, teilweise schon im Jugendalter. Das vermeintliche Glück mit dem schnellen Geld wird heutzutage auch online geboten. Als blinkende, bunte Unterhaltungsautomaten mit Gewinnmöglichkeit bekannt, sind sie in vielen Gaststätten frei zugänglich. Selbige beschreiben ein sehr hohes Suchtpotential, dem 80 Prozent der pathologischen Spieler verfallen sind, überwiegend Männer. Wirft man 50 Cent in den Automaten, erhält man 50 Punkte als Spieleinsatz. Ob nun Punkte oder Jetons, der direkte Bezug zum Geld schwindet. Vergleichbares findet sich bei zwanghaften Aktienspekulationen wieder, worunter offenbar Uli Hoeneß litt. Anhand von scheinbar vorhandenen Kompetenzanteilen werden die eigenen Chancen berechnet. Die Spieler haben nicht mehr die Situation im Griff, sondern die Situation hat die Spieler.

Das Karussell der irrationalen Gedanken ist schnell in Gang gesetzt. Während der Fahrt gestaltet sich ein unversehrtes Aussteigen schwierig. Zu schön ist doch der Rausch. Die Umwelt nur noch als verzerrte Realität wahrgenommen. In dem intimen Moment existiert nur der Automat. Manche Spieler reden mit ihm, berühren ihn – eine unerwiderte Liebe. Ein anfangs noch unterschwelliger Kontrollverlust in Form des „Nichtaufhörenkönnens“ macht sich breit, zieht weite Kreise. Wird zum parasitären Lebensmittelpunkt.

Thomas Patzelt ist heute ein „trockener Spieler“ und seit ungefähr sieben Jahren spielfrei. Bis hierhin war es ein holpriger Weg, gespickt mit Rückfällen, abgebrochenen Behandlungen und Selbstzweifel. Therapien und Selbsthilfegruppen waren und sind ihm eine große Hilfe beim Bewältigen des Spieldrucks. „Eine Heilung gibt es nicht, es ist vielmehr eine Stilllegung. Der Sucht kann man jederzeit wieder verfallen.“ Seine akute Spielphase wurde neben persönlichen Problemen zusätzlich begünstigt durch eine Verletzung, die ihn am regelmäßigen Sporttreiben hinderte; „es fehlte ein alternatives Ventil“, erklärt er. Der damals extrem introvertierte Mann machte Konflikte mit sich selbst aus und versuchte, möglichst allen zu gefallen. Spannungen stauten sich an und wurden während dem Spielen entladen.

Wer seine Schwächen kennt, erliegt ihnen seltener. Patzelt hat seine erkannt und akzeptiert. Mit der Hilfe und Unterstützung von außen, wie sie unter anderem „Die Tür“ anbietet, erlernte beziehungsweise lernt er das „Nicht-Spielen“ und weiß, dass jeder Tag eine neue Probe darstellt. Dieser Prozess hat ihn zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit geformt. Er kann wieder die kleinen Dinge im Leben, jeden spielfreien Glücksmoment genießen. Der Nicht-Spieler hat sich außerdem angeeignet, nicht mehr jedem Genüge tun zu müssen, was er als große Erleichterung wahrnimmt. Nun ist er bereit, seine eigene Rolle auf der Bühne des Lebens zu spielen.

Gerne erzählt er offen seine Geschichte, ohne Scham. Mittlerweile ist Thomas Patzelt Gründer und Vorsitzender des Landesverbandes „Spielfrei24 e. V.“ und führt als engagierter Betroffener eine Reihe von Selbsthilfegruppen in Trier und Umgebung. „Wenn Du etwas wissen willst, dann frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten“ – diese chinesische Weisheit hat er sich stolz auf die Fahne geschrieben. Mit entschlossenem Blick betont Patzelt, er wolle aufklären, unterstützen und helfen. „Wir Spieler sind in allen Schichten vertreten, es kann jeden treffen“. Ebenso ist ihm ganz wichtig, die Öffentlichkeit mit dem oftmals unterschätzten Problem der Glücksspielsucht zu konfrontieren und Angehörige zu sensibilisieren. Für dieses wichtige Anliegen ließ er sich sogar auf einen Spaziergang an der Mosel und auf einen Kaffee ein. Vorsichtig steckt er das verpackte Plätzchen neben der Tasse ein und sagt warmherzig: „Für meine Tochter“. Er strahlt über das ganze Gesicht.

Rebekka Pick

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