„…sonst hätte ich den Baum früher untersucht“

Zeichen der Anteilnahme in der Wilhelm-Rautenstrauch-Straße, einen Tag nach dem tödlichen Unglück. Foto: Marcus StölbHat ein städtischer Mitarbeiter seine Dienstpflicht verletzt? Oder ist das Grünflächenamt unterbesetzt, sind dessen Mitarbeiter so überlastet, dass sie ihrer Arbeit nur begrenzt nachgehen können? Oder krankt das System gar als Ganzes? Um diese Fragen hat sich am Dienstag der erste Verhandlungstag im Prozess um das tödliche Baumunglück in der Trierer Altstadt gedreht. Im Mittelpunkt stand die Aussage des Angeklagten. „Ich habe im vorliegenden Fall die Priorität nicht gesehen, sonst hätte ich den Baum früher untersucht“, erklärte der 53-Jährige vor Gericht.

TRIER. Stühle werden herbeigeschleppt, knapp 50 Gäste wollen den Prozess im Sitzungssaal 54 des Amtsgerichts verfolgen. Auch die knapp ein Dutzend Pressevertreter müssen zusammenrücken. Kameras summen und klicken, sind auf den Richtertisch und den Zuhörerraum gerichtet. Auch das Unglück, das diesem Prozess vorausging, lief im vergangenen Jahr durch die Medien und sorgte bundesweit für Schlagzeilen.

Dann wird es still. Richter Wolf-Dietrich Strick eröffnet die Verhandlung. Ruhig sitzt der Angeklagte auf seinem Stuhl, nur die Hände verraten seine Nervosität. Der schlanke grauhaarige Mann ist angeklagt, durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen und die Körperverletzung eines zweiten zu verantworten. Der konkrete Vorwurf, formuliert von Staatsanwalt Arnold Schomer: Der städtische Mitarbeiter habe in seiner Funktion als Sachgebietsleiter eine am 23. Juli 2012 für schadhaft befundene Kastanie im Rautenstrauchpark nicht eingehend kontrolliert. Ein Mitarbeiter des Grünflächenamts habe an diesem Tag den Baum, dessen Stamm teilweise hohl war, und eine weitere Kastanie wegen schlechter Belaubung und Vitalität für eine Zweitkontrolle vermerkt. „Pflichtwidrig unterließen Sie es, diese Untersuchung durchzuführen“, sagt Schomer. Dadurch seien zwei Menschen „wuchtig getroffen und eingeklemmt worden“. Eine 70-Jährige Frau war sofort tot – ihr Mann sitzt als Nebenkläger im Gerichtssaal. Ein heute 59-jähriger Mann, auch er Nebenkläger und Zeuge, erlitt zahlreiche Frakturen im Bereich des Brustkorbs, der Hüfte und Beine. Bis heute ist er auf Krücken angewiesen.

Die Staatsanwaltschaft hat am 7. Juli dieses Jahres einen Strafbefehl beantragt. Der angeklagte Gärtnermeister sollte ohne mündliche Hauptverhandlung eine Geldstrafe zahlen. Doch das Amtsgericht gab dem Antrag nicht statt – „weil die Alleinschuld des Angeklagten nach Aktenlage verlässlich nicht nachgewiesen ist“, erklärt Strick. Er wolle prüfen, ob eine Dienstpflichtsverletzung vorgelegen habe. Dabei sei es wichtig zu erfahren, ob die Struktur im Grünflächenamt intakt oder defizitär sei. „Das scheint nicht aufgeklärt, und das beeinflusst die richterliche Entscheidung“, sagt der Richter. Es habe Auswirkung auf die Prüfung, ob der Angeklagte schuldig zu sprechen und zu bestrafen sei.

Der Angeklagte hat das erste Wort, von seinem Schweigerecht macht er keinen Gebrauch. Der 53-Jährige räumt zuerst mit der Behauptung auf, er sei „Sachgebietsleiter“: Er sei Beschäftigter ohne Leitungsfunktion und im Grünflächenamt für die Baumpflege zuständig, organisiere also die Einsätze der Mitarbeiter. 75 Prozent seiner Arbeitszeit nehme dies ein, dazu kämen weitere Aufgaben im Bereich Baumschutz und der Stadtgärtnerei; so steht es in seiner Stellenbeschreibung, die Strick vorliest. Inzwischen, so räumt der Angeklagte ein, sei er von einigen Arbeiten befreit.

„Ich bin zuständig für die eingehenden Untersuchungen“, also die Zweitkontrollen, sagt er und knetet immer wieder seine Hände. „Es steht fest, dass mein Kollege mich am 23. Juli 2012 informiert hat, dass an den beiden Kastanien eine Zweitkontrolle gemacht werden muss.“ Ob dies telefonisch geschah, wisse er nicht mehr, sagt er mit leiser Stimme. Aber er könne sich an ein persönliches Gespräch erinnern, am gleichen oder am Folgetag, und dass er sich eine Notiz gemacht habe. „Ich gehe davon aus, dass ich nicht vor Ort war, um mir den Baum anzusehen.“ Bei dieser Aussage hakt Strick nach, denn der Kollege hatte ausgesagt, dass der Angeklagte im Rautenstrauchpark gewesen sei. „Ich war nicht vor Ort“, sagt dieser bestimmt im Ton, „daher kann nur er oder ich mich irren.“ Schuldzuweisungen oder Ausflüchte kommen ihm nicht über die Lippen. Er schätze seinen Kollegen als „fachlich guten Mitarbeiter“.

Was mit der Notiz geschehen sei, will der Richter wissen. Die habe er in eine Mappe gelegt, zusammen mit rund 100 weiteren Unterlagen zu Bäumen, für die eine Zweitkontrolle anberaumt gewesen sei, sagt der 53-Jährige. 20 bis 30 davon habe er in den vier Monaten abgearbeitet. „Bäume rufen nicht, die Dinge, die jeden Tag anfallen, drängen sich in den Vordergrund.“ Um Fassung ringend sagt er: „Ich habe im vorliegenden Fall die Priorität nicht gesehen, sonst hätte ich den Baum früher untersucht“; mit einem Resistografen, ein Spezialgerät zur Bestimmung der Wandstärke des Stammes, von dem es nur einen im Grünflächenamt gibt. Zwei bis drei Stunden dauere so eine Untersuchung mit Auswertung.

Und dann beschreibt der Gärtnermeister seinen Arbeitsalltag. Er erhalte Aufträge von Baumpflegetrupps, -kontrolleuren, Kollegen verschiedener Ämtern und Privatleute zur Überprüfung von Bäumen, sagt er. Gerade bei Bürgeranrufen „habe ich sehr schnell reagiert und einen Ortstermin vereinbart, weil ich den Schaden am Telefon nicht einschätzen kann“. Anders sehe das bei den Kollegen aus, die dies selbst beurteilen könnten. Auf diese Einschätzung habe er sich verlassen. Denn auch anhand des Baumkastasters, in dem im Juli 2012 noch nicht alle 24000 städtischen Bäume erfasst waren, sei es schwer, Prioritäten festzulegen. „Da hilft nur jahrzehntelanges Wissen.“ Das sei noch heute so, obwohl das Kataster inzwischen vollständig sei – erstellt übrigens mit eigenen Mitteln, ohne Fremdleistung. „Das haben wir nebenher mitgemacht.“

Leise Kritik allerdings am Baumkataster, das nicht vorsehe, dass die Kontrolleure Prioritäten oder Zeitlimits eintragen. Zwar habe ein Baumkontrolleur am 1. Oktober eine Faulstelle im Unglücksbaum eingetragen, doch wie groß und gefährdend diese war, könne er aus dem Kataster nicht erkennen. Dass dieser erneut eine Zweikontrolle verlangt habe, wurde nicht dokumentiert – die sei ja schon eingetragen gewesen. „Es ist unverständlich, dass man hier keine zeitlichen Vorgaben macht“, sagt der Angeklagte. Diese gebe es für viele sicherheitsrelevante Dinge.

Sichtlich ungern redet er über die Zustände in seinem Amt. Für die Pflege der 24.000 Bäume seien eine Kolonne und zwei Baumkontrolleure zuständig; der eine für die Innenstadt, Trier-Süd und -Ost, der andere für Trier-Nord und die westliche Moselseite. Beide hätten aber noch weitere Aufgaben, etwa den Winterdienst. Fremdaufträge seien erst nach dem Unfall vergeben worden. „Ich habe jetzt wieder mehr als 100 Fälle auf dem Tisch.“ Diese würden zwar zum Teil an Fremdfirmen vergeben, aber auch das koste Zeit.

„Ist das zu leisten?“, fragt der Richter. Hin und wieder habe es Klagen gegeben. So habe der Zeitrahmen für die jährlichen Kontrollen verlängert werden müssen, „weil es zeitlich nicht leistbar war“. Sein Verteidiger Roderich Schmitz ergänzt, dass Amtsleiter Franz Kalck schriftlich einen Antrag gestellt habe, eine zweite Kontrolltruppe einzurichten – ohne Erfolg. Wann er von dem Baumsturz erfahren habe? „Wenige Minuten nach dem Ereignis“, sagt der Angeklagte „Ist ihnen da nicht ganz anders geworden?“ Der Angeklagte schweigt, schaut nach unten, schluckt. Auch die Aussagen des schwer verletzten Opfers, zweier Schülerinnen und von zwei weiteren Zeugen nehmen ihn sichtbar mit.

Als weitere Termine der Verhandlung hat das Amtsgericht den 26. und 28. November benannt.

Mechthild Schneiders

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