Lesen und lesen lassen

Für Bücher hatte Wulf Werbelow schon immer etwas übrig, schließlich arbeitete er über Jahrzehnte als Buchhändler. Doch nicht nur deshalb ist der 74-Jährige wie geschaffen für die Rolle, die er nun ausfüllt – Werbelow ist der „Leseopa“ der Trierer Barbara-Grundschule. Wenn er von seinem ehrenamtlichen Engagement erzählt, steckt seine Begeisterung an, und manchmal ist man auch ein wenig gerührt. Sein Beispiel soll jetzt Schule machen, weshalb Volkshochschule, Stadtbibliothek Palais Walderdorff und das Programm „Lernen vor Ort“ sich gemeinsam auf die Suche nach Lese- und Lernpaten machten. Die Kooperationspartner wurden rasch fündig. Derart groß ist die Resonanz, dass Projekt-Koordinatorin Regula Püschel schon lange Wartelisten für ihre Schulungen führt.

TRIER. Wulf Werbelow hat es sich gemütlich gemacht auf der Bank des Café Walderdorff, fröhlich beginnt er zu erzählen. Von den Kindern, denen er vorliest; von den Büchern, die sie gemeinsam gestalteten; von den Lehrerinnen, mit denen er zusammenarbeitet. Seine Augen leuchten, seine Leidenschaft ist unübersehbar. Doch dann folgt unvermittelt ein Satz, der für einen kurzen Moment aus der Leichtigkeit der Unterhaltung reißt: „Mir ging es damals dreckig“.

Vor sieben Jahren starb Werbelows Frau. Der Witwer fiel in ein Loch, der Verlust machte ihm schwer zu schaffen. Wie „allein auf der Welt“ habe er sich gefühlt, „mir ist die Decke auf den Kopf gefallen“. Doch Werbelow ließ sich nicht hängen, machte sich stattdessen auf die Suche nach einer Beschäftigung – etwas, das ihn wieder auf bessere Gedanken bringen könnte. „Ich hätte alles genommen, Hauptsache unter die Leute“, erinnert er sich. So schaute er bei der Trierer Ehrenamtsagentur vor, und als man dort wissen wollte, welche besonderen Befähigungen er denn mitbringe, da stutzte er erst einmal. „Ich?“, überlegte der alte Buchhändler, „ich kann vorlesen“.

Und ob Werbelow das kann. Gleich mehrmals in der Woche beweist er es ja, als „Leseopa“ der Barbara-Grundschule in Trier-Süd. „Ich versuche, Freude am Lesen zu wecken“, sagt er bescheiden und berichtet, wie viel Freude er selbst dabei empfinde – und was er in den bislang sechs Jahren als „Leseopa“ hinzugelernt hat. Werbelow beschränkt sich nicht aufs Lesen und lesen lassen, sondern entwickelt mit den Kindern mitunter ganze Geschichten. So entstand das Buch „Robotron und Blechliesel“, das gleich 20 Autoren zählt. Werbelow hatte mit dem Schreiben schon begonnen, war aber nicht weitergekommen. Also schlug er den Drittklässlern von Lehrerin Janin Gorges vor, doch mit ihm gemeinsam die Geschichte weiterzuspinnen. Die Schüler ließen sich nicht lange bitten und wurden kreativ. Jeweils zwei Kinder entwickelten ein weiteres Abenteuer für die beiden Protagonisten Robotron und Blechliesel. Werbelow machte sich Notizen und legte sie den kleinen Autoren vor – auf dass die darüber wachten, dass der „Leseopa“ auch wirklich ihre Geschichte übernommen hatte. „Die wussten bis aufs Jota, was sie mir vorher erzählt hatten“.

Das wiederum war ganz im Sinne Werbelows, denn eines ist ihm in den vergangenen Jahren bewusst geworden, wie er im Rückblick auf die Erziehung seiner eigenen Kinder durchaus selbstkritisch einräumt: Man muss den Kindern Respekt entgegenbringen, sich ehrlich für sie interessieren. „Ich arbeite grundsätzlich nur mit Lob“, erzählt der warmherzige Senior, „und ich habe gelernt, dass man Menschen durch Zutrauen erzieht“. Aber Werbelow ist nicht naiv, er weiß um seine Ausnahmestellung und das Privileg, meist nur mit ein oder zwei Kindern, die sich mit dem Lesen schwer tun, arbeiten zu können: „Ich könnte so keine Klasse unterrichten“, gibt er unumwunden zu und erzählt von dem Glück, dass er bei seinem Engagement empfinde. Kinder, die zuhause kaum ein Buch in die Hand bekommen und oftmals nie etwas vorgelesen bekamen, strahlten ihn an.

Auch Regula Püschel von „Lernen vor Ort“ strahlt. Die Bildungsberaterin hatte nicht mit einer derart überwältigenden Resonanz auf das Projekt Lese- und Lernpaten gerechnet; aber wer hätte das schon? Rund 70 Menschen wollen dem Beispiel Werbelows folgen und sich ehrenamtlich engagieren – in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen, aber auch in einzelnen weiterführenden Schulen. Ziel des Gemeinschaftsprojekts von Stadtbibliothek, Volkshochschule und „Lernen vor Ort“ sei es, das Interesse fürs Lesen zu wecken, aber ebenso die Phantasie der Kinder anzuregen und das Sprachgefühl von Kindern zu verbessern, erläutert Püschel. Die Lesepaten lesen einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen vor. Ganze Bücher entwerfen oder schreiben, wie Wulf Werbelow das tut, wird niemandem abverlangt. Die Projektpartner verstehen die Leseförderung als Präventivmaßnahme, wollen die Chancen leseschwacher Kinder in der schulischen und auch der späteren beruflichen Entwicklung durch frühzeitige Förderung verbessern.

Dass dies gelingen kann, zeigen nicht nur die Erfahrungen von „Leseopa“ Werbelow, sondern auch die Ergebnisse einer Vorstudie zum Projekt „Stark in Deutsch“ der Konzer Doktor Bürgerstiftung. Michaela Brohm, Professorin für Lehr-Lern-Forschung und Didaktik an der Universität Trier resümierte in ihrer Untersuchung, dass es den Lesepaten gelungen sei, die sprachliche Kompetenz der unterstützten Schüler „bedeutend“ zu stärken und ihre „soziale Orientierung“ zu steigern. „Hinsichtlich seiner Ziele war das Projekt sehr erfolgreich“, so Brohms Fazit, Entwicklungsbedarf sieht sie allerdings mit Blick auf die Leistungsmotivation der Kinder, die von Lesepaten profitierten.

Werbelow sagt, er profitiere jeden Tag von seinem Engagement: „Was ich den Kindern gebe, kriege ich doch dreifach zurück“, sagt er und berichtet davon, wie dankbar er ist, als „Leseopa“ wirken zu können. In diesem Monat noch wird er gemeinsam mit den Kindern das nächste Erfolgsprojekt vorstellen: „Die Weihnachtsmaus“ heißt das Werk, die anrührende Geschichte über die Maus, die ihrem Traum treu bleibt, stammt von ihm. Doch wieder haben sich die Schüler eingebracht, gemeinsam illustrierten sie  das Buch. Mit von der Partie waren auch ein einige Erwachsene. Die „Weihnachtsmaus“ erscheint in einer Auflage von gerade mal 150 Exemplaren, in den freien Verkauf wird es nicht kommen. Das jedoch ist nicht der einzige Grund, weshalb das Buch im besten Sinne des Wortes wertvoll ist: Werbelow gestaltet jeden einzelnen Einband in Handarbeit, aus schlichtem Karton und doch bezaubernd bibliophil. Dass die Mini-Auflage zustande kam, ist einem Zuschuss der Nikolaus-Koch-Stiftung zu verdanken, die auch bei der Finanzierung der kostenfreien Schulungen für Interessierte hilft.

An diesem Samstag findet der erste Kurs statt, wegen der enormen Nachfrage mit 30 statt der ursprünglich 20 geplanten Teilnehmer. Die Warteliste ist lang, doch kündigt Regula Püschel für Januar einen zusätzlichen Kurs an. Weitere sollen folgen, weshalb sich Interessierte auch weiterhin anmelden (Telefon: 0651-718-4447; Regula.Pueschel@trier.de) können. Auch weitere Kooperationspartner sind willkommen, bislang sind acht Bildungseinrichtungen von der Kita bis zu einer Realschule plus mit im Boot.

Im Rahmen des bundesweiten Vorlesetags an diesem Freitag, 16. November, lesen in der Stadtbibliothek Palais Walderdorff lokale Prominente vor. Den Auftakt macht um 10 Uhr Hannah Swoboda, die für 4- bis 6-jährige Kinder liest. Um 13 Uhr folgt Bürgermeisterin Angelika Birk (6 bis 10 Jahre), anschließend um 14 Uhr ADD-Präsidentin Dagmar Barzen (ebenfalls 6 bis 10 Jahre) und um 15 Uhr Pfarrerin Kerstin König-Thul von der Evangelischen Kirchengemeinde Trier (4 bis 6 Jahre). Zum Abschluss (16 Uhr) kommen Spielerinnen der Trierer „Miezen“, die für 6 bis 10-Jährige vorlesen werden.

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