Jeder Mensch hat Stärken!

Im November 1962 wurde die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ gegründet und damit das Fundament für die heutige Lebenshilfe Trier gelegt. Auch ein halbes Jahrhundert später bleibt man sich treu, steht das Prinzip Selbsthilfe im Fokus der Arbeit. Am vergangenen Samstag feierte der Verband mit einem Festakt seinen 50. Geburtstag, aus Berlin war eigens die ehemalige Gesundheitsministerin und Lebenshilfe-Bundesvorsitzende Ursula Schmidt angereist. „Wir brauchen die Fähigkeiten eines jeden Menschen“, so Schmidt. Schirmherr Klaus Jensen zitierte aus der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, wonach die Stärke eines Volkes sich am Wohl der Schwachen bemisst. Sichtlich wohl fühlte sich an diesem Nachmittag Katharina Reichelt, konnte sie doch voll ihre Stärken ausspielen. Nicht nur, dass die Saarbrückerin mit ihrem Cello beeindruckte – sie ist auch Trägerin des Zukunftspreises 2012 der Lebenshilfe.

TRIER. Heinz Hausmann war nicht mit dabei, der Architekt fehlte am Samstag in der Europäischen Rechtsakademie. Er hätte einiges zu sagen gehabt, schließlich zählte er zu den Gründern der Trierer Lebenshilfe und bildete gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Paul Kreutzer den ersten Vorstand. Im vergangenen Jahr verstarb Hausmann, doch wie es war in den 1950er Jahren, als sein Sohn mit einer Behinderung zur Welt kam, lässt sich im ebenso informativen wie ansprechend gestalteten Jubiläums-Magazin der Lebenshilfe nachlesen: „Da standen wir mit unserem Winfried alleine. Es gab für geistig oder körperlich behinderte Kinder in Trier weder einen Kindergarten, eine Tagesstätte noch eine Schule“. Wäre die damalige Rektorin der Sonderschule für Lernbehinderte nicht gewesen, die Hausmanns hätten noch ein Stück einsamer auf weiter Flur gestanden. Doch Aenne Kappes erkannte schon damals die Notwendigkeit, Strukturen und Angebote zu schaffen, die Betroffenen eine Möglichkeit zur Selbsthilfe bieten. Kappes war denn auch an der Gründung der Lebenshilfe, die am 20. November 1962 erfolgte, maßgeblich beteiligt.

Fünf Jahrzehnte später im Saal der Europäischen Rechtsakademie: Katharina Reichelt zückt den Bogen und streicht gekonnt über die Saiten ihres Cellos. Zum Auftakt spielt sie Bach, begleitet von Holger Queck am Klavier. Eigentlich sind solche Auftritte schon fast Routine für sie, zumindest bringt die 22-Jährige bereits einige Erfahrung mit Auftritten vor größerem Publikum mit; doch ihre jeweiligen Zuhörer lässt ihr Spiel aufhorchen und auch aufschauen zu der klein gewachsenen Frau. Denn die Saarbrückerin kam mit Trisomie 21 (Down Syndrom) auf die Welt, aber ihr wurde eben auch ein großartiges Talent in die Wiege gelegt. Und dieses Talent wurde erkannt und gefördert. Heute arbeitet Katharina Reichelt als Assistentin in der Musiktherapie einer Klinik in Neunkirchen. Sie ist damit nicht nur Musikerin, sondern auch so etwas wie die personifizierte Inklusion – ein Begriff, der im Verlauf des Festakts an diesem Nachmittag noch einige Male fallen wird.

Auch Dr. Martin Rieger wird ihn in seiner Ansprache verwenden, doch erinnert der Geschäftsführer zunächst an den Auftrag der Lebenshilfe, die in bundesweit mittlerweile 500 Orts- und Kreisverbänden auf die Unterstützung von rund 130.000 Mitgliedern zählen kann: „Sie stärken die Rechte und Anliegen für Menschen mit Behinderungen“. Allein die Trierer Lebenshilfe begleite etwa 450 Menschen, beziffert Rieger. Anders als vor einem halben Jahrhundert, als Menschen wie Heinz Hausmanns Sohn Winfried kaum auf Unterstützung zählen konnten, reicht das Angebot der Lebenshilfe in Trier heute von Integrativen Kindertagesstätten über Schulen, Ambulante Dienste bis hin zu Wohnheimen und angeschlossenen Wohngruppen. Es gibt eine zentrale Beratungsstelle, die Lebenshilfe-Werke und das Sozialpädiatrische Zentrum. „Sie tun etwas, was der Staat nie leisten könnte“, lobt Schirmherr Klaus Jensen (SPD), und „Sie schaffen einen Rahmen und eine Atmosphäre, in dem Menschen ihr Leben genießen und leben können“.

Der Oberbürgermeister darf bei diesem Festakt gleich für drei sprechen – für sich, aber auch für seine Frau, die Mainzer Sozialministerin und designierte Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die kurzfristig verhindert war. Das war, krankheitshalber, auch Landrat Günther Schartz, weshalb Jensen auch in seiner Namen das Wort ergreift. Der OB blickt auf die „wunderbare Entwicklung“ der vergangenen Jahrzehnte zurück, Menschen mit Behinderungen seien Dank der Arbeit der Lebenshilfe und Tausender Ehrenamtlicher „aus der Verdrängung in die Mitte der Gesellschaft“ geführt worden. Natürlich habe man noch ein weiten Weg vor sich, aber ein Blick zurück mache auch deutlich, wie viel schon erreicht worden sei. Sodann machte Jensen eine klare Ansage, die mit reichlich Beifall quittiert wurde: Auch wenn in den öffentlichen Haushalten konsolidiert und gespart werden müsse – „hier nicht!“ Jensen appellierte an die Unternehmen, mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. „Menschen mit Beeinträchtigungen, egal mit welchen, haben alle ihre Stärken“. Das unterstrich auch Bernhard Kaster (CDU). Der Bundestagsabgeordnete übermittelte Grüße von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU). Kaster erinnerte in seinem Grußwort auch an den Beschluss des Bundestags zur Präimplantationsdiagnostik (PID). Von einer „schwierigen Entscheidung“ sprach der Unionsmann, der zugleich aber auch die Ernsthaftigkeit der Debatte hervorhob.

Kasters Berliner Parlamentskollegin Ulla Schmidt wurde im vergangenen September mit großer Mehrheit zur neuen Bundesvorsitzenden der Lebenshilfe gewählt. Acht Jahre stand sie an der Spitze des Bundesgesundheitsministerium, doch Empathie und Leidenschaft für Menschen hat sich die Sozialdemokratin im bisweilen brutalen Berliner Politikbetrieb erkennbar bewahren können. „Es sind vor allem die Eltern gewesen, die nicht mehr hinnehmen wollten, dass ihre Kinder als bildungsunfähig angesehen wurden“, erinnerte Schmidt an die Ursprünge der Lebenshilfe. Sie erinnerte an das „Menschenrecht auf umfassende Teilhabe“ und daran, dass „Verschiedenheit auch Vielfalt bedeutet“. Es müsse alles dafür unternommen werden, dass Menschen mit besonderem Hilfebedarf mitgenommen würden. „Wir brauchen die Fähigkeiten eines jeden Menschen, wir brauchen jeden Einzelnen“, appellierte Schmidt.

Es braucht auch immer Menschen wie Werner Lieser, den Vorsitzenden der Stiftung Lebenshilfe Trier. Lieser ist so etwas wie das Gesicht des Verbands, seit Jahrzehnten setzt er sich unermüdlich ehrenamtlich für ihn ein. Nun zählte er zu den Mitgliedern der Jury für den Zukunftspreis 2012 „Wege der Inklusion“. Fast drei Dutzend Initiativen und Projekte waren für die Auszeichnung vorgeschlagen worden, die weitaus meisten stammten aus dem Freizeitbereich. „Es ist wohl so, als ob die Menschen in diesen Bereichen sich eher aufschließen, in einer besonderen Weise bei sich selbst sind und damit bereit, sich zu öffnen, sich zu engagieren, Barrieren zu beseitigen, Wege der Inklusion zu gehen“, mutmaßte Lieser. Neben vier lobenden Anerkennungen wurden drei Preise verliehen. Der dritte ging an den RSC-Rollis Trier e.V. für das Projekt „Jedermannturnier im Rollstuhl-Basketball“. Dass bei diesem Projekt die Menschen ohne Behinderung sich anpassen und integrieren müssen, habe die Jury überzeugt. Den zweiten Preis bekam die „AG Begegnungen“ der Gesamtschule Türkismühle im Saarland zugesprochen. Obschon inklusiv beschult, würden die Schüler sich nicht zufrieden zurücklehnen, sondern sich einmisch und das Gemeindeleben mit aufmischen, lobte Lieser.

Den ersten Preis gab es für das Projekt „Traumberuf Musikerin“, und dem hat sich Katharina Reichelt verschrieben. „Die Jury würdigt diesen selbstbestimmten Weg eines jungen Menschen mit Behinderung, der es ihr ermöglicht , die künstlerische Begeisterung als Musiktherapeutin im Arbeitsleben umzusetzen“, so Lieser; die Förderung, die Katharina Reichelt erfahren habe, um ihr Talent zu entwickeln, trage dazu bei, „die Gesellschaft zu bereichern“.

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