„Ihr perversen Schweine“

Das Goldketten-Gangster-Image ist Vergangenheit: Sido hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur optisch stark verändert. Foto: Christian Jöricke„Vom Bad Boy zum guten Jungen“ wäre zwar eine hübsche Überschrift gewesen, aber keine sehr präzise. So richtig bad war Sido nie und ausschließlich brav ist er jetzt auch nicht. Dennoch hat er in den vergangenen knapp 15 Jahren – erfreulicherweise – eine große musikalische Entwicklung vollzogen: Vom provokanten Goldketten-Rap zu mehr Pop und mehr Verantwortung. Keinem anderen deutschen Künstler haftet ob dieser Wandlung derzeit so fest das „Früher war er besser“-Image an wie dem gebürtigen Berliner. Der Rapper geht damit offen und ironisch um. 2000 Besucher feierten Sido am Donnerstagabend in der Europahalle.

TRIER. „Wollt ihr Sido sehen?“, fragt Kurt Krömer das Publikum, das begeistert reagiert. Allerdings ist Krömer nicht leibhaftig anwesend, sondern nur Teil eines mehrminütigen Clips, der auf eine Leinwand projiziert wird und die Show einleitet. Passenderweise mit „Hier bin ich wieder“, dem ersten Stück des aktuellen Albums „30-11-80“, eröffnet der Berliner Rapper das Programm.

Die verchromte Totelschädel-Maske ist längt Geschichte, Sido trägt stattdessen Brille, Mütze und Vollbart und sieht damit aus wie Mark Oliver Everett von den „Eels“ beziehungsweise wie inzwischen jeder dritte Geisteswissenschaftsstudent. Neben einer Band hat er auch gesangliche Unterstützung dabei. Bereits bei der zweiten Nummer „Schlechtes Vorbild“ steigt „Bass Sultan Hengzt“ mit ein, der später unter anderem auch ein eigenes Stück, die schöne Old-School-Nummer „Halt Stop“, seines im April erscheinenden Albums „Endlich erwachsen“ präsentieren darf.

Erwachsen werden ist auch das Thema des Abends. Viele ältere Fans verübeln ihm, dass er sich in den vergangenen Jahren stilistisch verändert hat und auch nicht mehr den Gangster-Rapper gibt. Stattdessen singt er jetzt verstärkt über Opfer der Gesellschaft, Außenseiter und – die Liebe. Zum Beispiel in „Einer dieser Steine“ und „Irgendwo wartet jemand“, bei denen er von Mark Forster begleitet wird. Die Anhänger, die Sido lieber wieder mit schwerer Goldkette sehen würden, dürften bei diesen R&B-geprägten Stücken – nicht ganz zu Unrecht –  kritisieren, dass sie genauso gut Xavier Naidoos Lippen verlassen könnten. Der 33-Jährige kennt solche Kritik und weiß damit umzugehen: „Die Leute wollen HipHop. Es reicht jetzt mit der Pop-Scheiße von Sido.“

Allerdings hat ihm diese weiche Seite auch neue Fans eingebracht. „Ein paar Kinder hier mittlerweile“, stellt er beim Blick ins Publikum fest. „Dann spielen wir jetzt was für Kinder, dann können die heimgehen.“ Für Sido ist „Augen auf“, in dem verheerende Kinderbiographien beschrieben werden und an Eltern appelliert wird, ihren Nachwuchs nicht zu vernachlässigen, „was für Kinder“.

Vorrangig geht es bei dem Konzert darum, das neue Album vorzustellen. Weil Sido um die Haltung einiger unaufgeschlossener Fans weiß, fragt er nach „Papa, was machst du da“ und „So wie du“: „Wollt ihr mal was Altes hören?“ Das Publikum johlt und bekommt „Bergab“ geboten, in dem er Schicksale – auch sein eigenes – eines weniger privilegierten Viertels besingt. Ausgerechnet nach „Herz“ fordert ein Großteil des Publikums Sidos berüchtigten „Arschficksong“, den er heute wohl nicht mehr schreiben würde.

Denn der einstige Rüpel-Rapper ist reifer geworden – auch wenn er diesen Umstand immer wieder ironisiert. Beispielsweise, als er in DJ Werds „Raucherecke“ an einer „Zigarette“ zieht. „Ich sollte das nicht machen, weil ich jetzt erwachsen bin.“ Oder als wieder sein kontroverses Frühwerk gefordert wird: „Ich bin jetzt erwachsen. Darum ist der ‚Arschficksong‘ nicht mehr in meinem Repertoire. Mittlerweile sind Wörter wie ‚Repertoire‘ in meinem Repertoire.“ Sidos Selbstironie ist sehr sympathisch.

Mit seinem vielschichtigen Programm lässt er keine Wünsche offen. Er bringt das Publikum zum Kopfnicken („Mein Block“, „Liebe“), zum Tanzen („Enrico“, „Arbeit“ [mit Helge Schneider auf der Leinwand, großartig!]) und zum Nachdenken über die Vergänglichkeit („Mein Testament“). Und dennoch hat es nicht genug: „Arschficksong“, „Arschficksong“ wollen hunderte Zuschauer als Zugabe. „Ihr perversen Schweine hier in Trier“, antwortet Sido grinsend und gibt dem Drängen der Besucher nach. Im Anschluss verabschiedet er sich nach zwei Stunden mit „Der Himmel soll warten“.

Im neuen Stück „Es war einmal“, das leider nicht auf der Setlist stand, heißt es: „Arrogant, provokant bis aufs Blut / Voller Hass, voller Wut, ja, so war ich mal. (So war ich mal) / Kilometerweit hinter meinem Ruf / Alles schön und gut, doch das war einmal. (Es war einmal) / Wie die Zeit rennt / Immer schneller drehen sich die Zeiger wie Propeller / Und genau deswegen bleiben wir nicht stehen / Die Gezeiten kommen und gehen / Doch das Gras, das drüber wachsen sollte, reicht nur bis zum Zeh / Ja, auch ich bin jetzt Anfang dreißig / Und so langsam zeigt sich, dass das hier richtig ist / Mich interessiert der andere Scheiß nicht / Ich verstehe das Gerede darum nicht mehr länger / So wie bei jedem hat mein Leben sich auch mitverändert / Niemand konnte das planen / Alles musste kommen, wie es kam / Vielleicht ist es irgendwann zerronnen wie gewonnen / Dann soll es sein, alles wird genommen wie es kommt / Was’n sonst?“. Sido ist angekommen.

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