Heute ist Grace Stella

Mit dem Band „Mein Name ist Stella“ hat die Triererin Andrea Palm-Hensel bereits das zweite Buch herausgebracht (nach „Stella – Unser Stern aus Indien“, Verlag Kleine Schritte), in dem sie über die Adoption ihrer Tochter Stella berichtet. Die Neunjährige steht als Co-Autorin mit auf dem Titel, denn ohne die Erinnerungen ihres Kindes hätte dieses Buch nicht entstehen können.

Stella wurde im Juli 2001 in Indien geboren und verbrachte einige Jahre in einem indischen Waisenhaus, aus dem heraus das Trierer Ehepaar Andrea Palm-Hensel und ihr Mann Harald Hensel sie adoptierten. Seit Weihnachten 2006 lebt das Mädchen mit seinen Eltern in Trier, wo sie die Grundschule besucht. „Ich bin hier nicht fremd, bin keine Inderin in Deutschland, sondern eine Deutsche, die in Indien geboren wurde“, schreibt sie beziehungsweise ihre Mutter im ersten Kapitel des im Wagner-Verlags erschienenen Paperbacks. Das Buch rekonstruiert zum Einen die ersten Jahre des Mädchens in Indien. Ebenso ist es aber auch die fiktive Geschichte der Herkunft, welche Andrea Palm-Hensel sich exemplarisch ausgedacht hat und die sie als typisch für indische Waisenkinder charakterisiert.

So entsteht die Figur des Mädchens Sita, welche sich nach einem Heiratsversprechen mit einem jungen Mann einlässt, der sie jedoch schnell verlässt. Die aus einer traditionellen und konservativen Familie stammende junge Frau verlässt ihre Familie, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen kann. Nur so kann sie diese vor der Schande eines unehelichen Kindes bewahren. Nach der Wanderung aus ihrem Dorf erlebt sie als bürgerliche Inderin das arme Indien, welches in Europa gut bekannt ist. Sie isst aus dem Abfall der Märkte, schläft auf der Straße und bettelt. Sita findet Unterschlupf in einem Kloster, wo sie gegen Brot und Bett in der Küche und im Garten aushilft. Schließlich nimmt eine wohlhabende Familie nimmt sie als Haushaltshilfe auf und sie verdient sogar eigenes Geld. Als der Termin der Entbindung kommt, geht Sita in ein Krankenhaus, wo sie anonym ihre Tochter Grace entbindet – zu früh und mit einer Behinderung, die ihre Arme und Beine lähmen. Aus Furcht vor der Zukunft verlässt die junge Mutter das Krankenhaus und überlässt das Kind seinem Schicksal.

Dieses wird schon recht schnell entschieden, denn eine Familie, die gerade eine Totgeburt hinter sich hat, nimmt kurzerhand das Waisenkind Grace mit. Diesen Namen haben ihr die Ordensschwestern der Entbindungsstation gegeben. Bei der Pflegefamilie wächst sie umsorgt von zwei großen Schwestern die ersten drei Jahre ihres Lebens auf. Arbeitslosigkeit und die dadurch entstandene Armut sowie die hohen Kosten für die medizinische Behandlung von Grace machen es notwendig, dass sie die Familie wieder verlassen muss. So kommt Grace in ein Waisenhaus, in dem sich die Schwestern auch um medizinische Hilfen kümmern. Nach Operationen lernt das Mädchen, zu laufen und beginnt langsam, sich in dem Heim wohl zu fühlen und auch Freundschaften zu schließen.

Genau in diesem Moment wird Grace mit der Tatsache konfrontiert, dass sie adoptiert werden soll – eine weitere fundamentale Änderung des Lebens, die zur Zerreißprobe nicht nur für das inzwischen fünfjährige Mädchen wird, sondern auch für die Eltern, welche bald selbst nach Indien fahren, um das Kind abzuholen. Sehr anschaulich ist der Wunsch der Kinder nach einer heilen Familie dargestellt, zugleich aber auch die dauernde Furcht, dies könnte wieder nur eine Etappe sein, die nicht von Dauer ist. Es gibt Tränen, Abwehr, Ignoranz und Wut, aber auch Momente der Verzückung, des Vertrauens und der Freude. Aber es ist auch schwer für Grace, mal wieder Abschied nehmen zu müssen, diesmal aus dem Kinderheim und von den Freundinnen und Freunden. Das langsame Kennenlernen, die Sprachprobleme in der Anfangszeit, die weite Reise nach Europa mit den fremden Menschen, die jetzt die Eltern sind und die neue Heimat in Trier sind die bewegenden Momente des Buches. Hier lässt sich erahnen, was es allen Beteiligten abverlangt, das Schicksal eines Menschen in die Hand zu nehmen und dabei auch Schwieriges durchzumachen.

Das 191 Seiten starke Buch erschien im Wagner-Verlag in der Kategorie „Romane“, ist aber eigentlich ein Erfahrungsbericht – aufgezeichnet von Andrea Palm-Hensel, der Mutter von Stella. Das ist der Name, der Grace in dem Moment ablöste, als das Trierer Ehepaar das Kind adoptierte. Grace lebte fünf Jahre in Indien, Stella ist nun bereits im fünften Jahr in Deutschland. Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit Äußerungen des Mädchens Stella. Optisch kursiv hervorgehoben und in der Ich-Form geschrieben, fasst sie klug und für ein Kind eine Spur zu weise die Zeit bei ihren Eltern zusammen: „Es mag übertrieben klingen, aber ich habe in meiner ersten Zeit in Deutschland viel kostbare Zeit gebraucht, um meine Identität für mich persönlich klarstellen zu können. Ich wusste nicht, wer ich war, wohin ich gehörte und was auf mich zukommen würde. Mir fehlten damals noch die Sicherheit und das Selbstbewusstsein, um gestärkt und unbeirrt durchs Leben zu gehen.“

Auch das zweite Kapitel beginnt aus der Sicht von Stella, bei der fiktiven Geschichte über deren Mutter jedoch erzählt Palm-Hensel aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters. Mit Kapitel 6 wechselt die Perspektive für den Rest des Buches wieder in die Ich-Form, also in Stellas Sicht der Dinge – egal, ob der Text wie zu Beginn kursiv gesetzt ist oder auch nicht. Diese Vermischung erschließt sich dem Leser nicht, denn der gesamte Text ist der eines Erwachsenen und nicht der eines Kindes. Dass sowohl Mutter als auch Tochter als Autorinnen firmieren, kann davon unabhängig betrachtet werden und ist auch durchaus angebracht, da die Erlebnisse ja auch von beiden stammen. Doch wie authentisch sind die Aussagen in der Ich-Form, wenn die Mutter im Namen des Kindes schreibt?

Was man nicht erwarten darf, ist ein Roman, wie es fälschlicherweise auch auf dem Titel steht. „Mein Name ist Stella“ ist ein lesenswerter Erfahrungsbericht über die Geschichte einer jungen Triererin mit einer ruhelosen Vergangenheit und einer Zukunft in ihrer eigenen Familie, die sie nicht mehr verlassen muss. Am Ende des Buches schreibt sie: „Ich habe so viele Pläne, was ich alles machen kann, wenn ich groß bin. Ich kann es kaum erwarten!“

Andrea Palm-Hensel und Stella Grace Hensel: Mein Name ist Stella. Gelnhausen, Wagner Verlag. 2010

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