„Es kann nicht Aufgabe des Arztes sein, zu töten!“

Tentrup1kleinMit einem Festakt feiert das Mutterhaus der Borromäerinnen an diesem Samstag das 20-jährige Bestehen seiner Palliativstation. Maßgeblichen Anteil an deren Aufbau, zunächst im heute nicht mehr existenten Herz-Jesu-Krankenhaus, hatte Dr. Franz-Josef Tentrup. Im Interview mit 16vor-Redaktionsleiter Marcus Stölb blickt der 75-Jährige auf seine Laufbahn als Anästhesie- und Intensivmediziner zurück, spricht über Selbstüberschätzung sowie ein Leben im Angesicht des Todes. Tentrup bezieht Stellung zu aktiver Sterbehilfe und ärztlich assistiertem Freitod und erklärt, weshalb das Töten eines Menschen nicht Aufgabe eines Arztes sein dürfe. Der gläubige Christ sagt aber auch: „Ich kann dem Leiden keinen Sinn abgewinnen“. Ein Gespräch über die Begrenztheit des eigenen Lebens und die Grenzen der Medizin, Tentrups letzten Wünsche und weshalb er nicht noch einmal nach Wien reisen möchte.

16vor: Herr Dr. Tentrup, Sie haben einmal gesagt, dass Sie vor mehr als vier Jahrzehnten, als Sie Anästhesie- und Intensivmedizin erlernten, eher zu wissen glaubten, was Leben ist…

Dr. Franz-Josef Tentrup: Die Intensivmedizin war damals erst im Entstehen und das Leben reduzierte sich für uns auf die vitalen Funktionen wie Atmung, Herz und Kreislauf. Es war Aufgabe des Arztes, diese zu erhalten oder wiederherzustellen. Wir setzten damals das Leben mit diesen vitalen Funktionen gleich.

16vor: Bis Ihnen die Gewissheit abhandenkam, zu wissen, was Leben ist.

Tentrup: Es wurden immer neue therapeutische Möglichkeiten geschaffen. Nehmen Sie die Dialyse oder die Möglichkeit der Reanimation; oder auch neue Antibiotika und Mittel, mit denen Sie den Herz-Kreislauf wieder auf Trab bringen konnten. Irgendwann waren wir der Meinung: Wir können jetzt alles!

16vor: Eine Selbstüberschätzung.

Tentrup: Als Intensivmediziner gehörten wir in den 70ern zur Avantgarde. Wir erlebten viele technische Entwicklungen. Und oft war das Vorhandensein einer Methode schon der hinreichende Grund für ihre Anwendung. Die Auskunft an die Angehörigen des Patienten lautete immer: Schaut her, wir tun alles! Ich muss gestehen: Wenn es dann einmal nicht klappte, stand oft nicht mehr so sehr der Patient im Mittelpunkt, da war man einfach nur frustriert.

16vor: Wann setzte denn bei Ihnen ein Umdenken ein? Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie als Arzt nicht mehr den Anspruch haben sollten, um jeden Preis Leben zu retten?

Tentrup: Wenn ich auf der Intensivstation war, habe ich mich schon manchmal gefragt: Ist das jetzt überhaupt noch ein Mensch oder schon eher ein Herz-Lungen-Präparat? Habe ich die Person und die Persönlichkeit des Patienten außen vor gelassen? Bin ich manchmal übers Ziel hinausgeschossen? Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gab es dann einen Kongress, der sich erstmals mit den Grenzen der Intensivmedizin beschäftigte. Aus den Vereinigten Staaten kam in dieser Zeit zudem der Begriff „Futility“ in die Diskussion, also die Frage, wann eine Therapie keinen Nutzen mehr hat.

16vor: Von der Intensiv- und Notfallmedizin führte Ihr Weg zur Schmerzmedizin. In Trier hatten Sie maßgeblichen Anteil am Aufbau der Schmerztherapie im Herz-Jesu-Krankenhaus.

Tentrup: Ich beschäftigte mich anfangs vor allem mit der Diagnose und Behandlung von Kopf- und Rückenschmerzen, aber ich hatte auch immer wieder Patienten mit Tumorschmerzen. Ich habe dann gesehen: Es ist nicht allein der Schmerz als solches, der die Betroffenen belastet, sondern auch andere Beschwerden. Diese Menschen brauchten also eine umfassendere Betreuung, und ich brauchte hierfür Betten. Im Herz-Jesu-Krankenhaus bot man mir die Möglichkeit, eine stationäre Therapie aufzubauen.

16vor: Sie sagen, Sterben sei der vielleicht intensivste Teil des Lebens, wenn es denn gelänge, das Potenzial dieser Lebensphase zu erschließen. Welches Potenzial meinen Sie?

Tentrup: Es gibt Träume, die man immer hatte und bei denen man bedauert, dass man sie nie verwirklicht hat. Manche kann man noch verwirklichen, andere nicht. Schauen Sie: Ich bin jetzt 75 Jahre alt, meine Zeit ist also begrenzt. Im vergangenen Jahr bin ich erstmals die Hurtigruten entlanggefahren. Das wollte ich schon immer. Außerdem war ich eine Woche in Wien. Ich werde nie mehr nach Wien kommen…

16vor: Weshalb sind Sie sich da so sicher?

Tentrup (lacht): Weil ich noch genügend andere Träume habe, die ich verwirklichen möchte! Aber ich scheue es auch, wieder nach Wien zu fahren. Wissen Sie, wenn Sie etwas Wunderbares erlebt haben und wollen das wiederholen, gelingt es meist nicht.

16vor: Was Sie beschreiben, also das Erfüllen lang gehegter Träume, betrifft nicht unbedingt die Phase des Sterbens.

Tentrup: Ich spreche auch nicht mehr vom Sterben. Ich spreche vielmehr vom Leben im Angesicht des Todes; oder, weniger aggressiv ausgedrückt, im Angesicht der eigenen Begrenztheit. Der Jurist Peter Noll hat einmal gesagt: Etwas zum letzten Mal zu sehen ist fast noch schöner, als es zum ersten Mal zu sehen. Sie erleben das einfach intensiver! Auch, wenn Sie zum Beispiel einen Freund treffen und mit ziemlicher Sicherheit wissen, dass Sie diesen nie wiedersehen werden.

16vor: Die beiden unmittelbaren Vorgänger von Papst Franziskus haben zum Ende ihrer Pontifikate ganz unterschiedliche Zeichen gesetzt: Johannes Paul litt über Jahre öffentlich, er steige nicht vom Kreuz, ließ er wissen. Benedikt trat in einem erkennbar besseren Gesundheitszustand zurück, weil seine Kräfte schwanden. In beiden Fällen zollten Gläubige, aber auch Kritiker den Päpsten Respekt. Für Sie als gläubiger Christ: Gibt es eine Pflicht des Menschen, Leid auszuhalten?

Tentrup2kleinTentrup: Grundsätzlich sehe ich als Arzt meine Aufgabe darin, Leid zu lindern. Ich kann dem Leiden keinen Sinn abgewinnen, insofern kann ich Johannes Paul nicht folgen. Allerdings muss ich es als Arzt ertragen, wenn ich gar nichts mehr machen kann. Wenn die medizinischen und psychotherapeutischen Mittel erschöpft sind, bleibt nicht mehr viel – außer für den Patienten da zu sein. Nichts sagen, einfach da sitzen bleiben. Für den Betroffenen ist das Sterben die letzte große Herausforderung im Leben, der er sich stellen muss.

16vor: Nicht wenige fürchten diese Herausforderung.

Tentrup: Wenn jemand sagt, dafür reichen meine Kräfte nicht mehr aus, und er sich das Leben nimmt, dann respektiere ich das!

16vor: Die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe lehnen Sie weiterhin ab?

Tentrup: Man muss die Dinge beim Namen nennen: Sterbehilfe ist Töten auf Verlangen, und es sind immer zwei Menschen beteiligt: derjenige, der es verlangt – und dessen Verlangen ich menschlich unter Umständen nachvollziehen kann; und der, von dem es verlangt wird. Hier sehe ich einen ganz starken Widerspruch zum Arztbild, das ich für mich habe. Es kann nicht Aufgabe des Arztes sein, zu töten!

16vor: Der Deutsche Ärztetag hat vor wenigen Jahren auch dem ärztlich assistierten Freitod eine Absage erteilt.

Tentrup: Ich will mich in dieser Frage nicht festlegen, aber mit der Entscheidung bin ich nicht glücklich. Da haben vor allem Kollegen abgestimmt, die nicht in schwierige Situationen kommen. Das sind nämlich in erster Linie Hausärzte und Palliativmediziner, die mit solchen Anliegen konfrontiert werden. Mich hat mal eine unheilbar erkrankte Frau gefragt, wie viele Morphium-Tabletten sie sammeln müsse, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich war erst einmal sprachlos und bat die Patientin um etwas Zeit, um mich mit ihrer Frage auseinanderzusetzen. Ich fragte sie aber auch, weshalb sie diesen Schritt gehen wolle. Sie sagte: ‚Ich habe Angst, meine Würde zu verlieren‘. Sie starb schließlich eines natürlichen Todes auf der Palliativstation. Aber was hätte ich denn dieser Frau sagen sollen? Ich bin für sie eine Vertrauensperson gewesen, und natürlich habe ich ihr gesagt, dass man sich mit Morphium töten kann.

16vor: Im Zusammenhang mit dem Abfassen von Patientenverfügungen raten Sie, dass man nicht allzu allgemein formulieren dürfe, sondern sich auch konkret mit verschiedenen Szenarien auseinandersetzen müsse. Genau diese Auseinandersetzung macht aber doch vielen Menschen Angst und hindert sie oft daran, eine Patientenverfügung abzufassen.

Tentrup: Das Wichtigste ist erst einmal, dass man eine Vertrauensperson hat. Wenn Sie diesem Menschen dann sagen: ‚Hör mal, für den Fall, dass du dich nicht mehr äußern kannst: was sollen wir dann tun oder lassen?‘, dann haben Sie schon viel erreicht. Wenn Sie nun weitergehen wollen, dann gibt es bestimmte Dinge, die Sie klar benennen sollten. Etwa wenn Sie keine künstliche Nahrungszufuhr haben möchten oder deren Beendigung verlangen, wenn sie schon in die Wege geleitet wurde.

16vor: Herr Dr. Tentrup, Sie haben die Palliativmedizin in Trier federführend aufgebaut. Auch waren Sie an der Errichtung des Trierer Hospizes maßgeblich beteiligt. Wenn Sie den Stand der Möglichkeiten heute sehen – sind Sie zufrieden oder wurde manches noch nicht erreicht, was Ihnen wichtig war?

Tentrup: Ich bin froh, dass es so ist, wie es in Trier ist. Es gibt inzwischen ein gutes Betreuungsnetz. Sicherlich ließe sich noch mehr machen, beispielsweise was den ambulanten Bereich anbelangt. Ich würde versuchen, verstärkt Nachbarn in diese Aufgabe mit einzubinden. Man muss da nicht am Bett sitzen und Hand halten, aber Nachbarschaftshilfe könnte schon einen wichtigen Beitrag leisten. Da sehe ich noch großes Potenzial, und es wäre auch ein wirklicher Gewinn für die Überlebenden.

16vor: Bronnie Ware hat einen Besteller über „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ geschrieben. Auch Christiane zu Salms „Dieser Mensch war ich“ schaffte es auf die Bestsellerliste. Sind die Menschen inzwischen wieder eher bereit, sich mit der eigenen Endlichkeit zu beschäftigen?

Tentrup: Ja, aber die natürliche Scheu, das Thema anzupacken, bleibt. Das ist aber auch ein Selbstschutz, denn man kann sich nicht andauernd damit auseinandersetzen, dass man sterben wird.

16vor: Eingangs sprachen Sie von Wünschen, die man sich im Angesicht der Begrenztheit noch erfüllen sollte. Welches wird denn ihr nächster Wunsch sein?

Tentrup (lacht): Ich habe ja schon einiges abgearbeitet, die Hurtigruten und Wien zum Beispiel. Aber im Flugzeug oder Heißluftballon über das Münsterland fliegen und einmal von oben die Wasserburgen sehen – also wenn ich das noch hinbekäme…

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.