Eine echte Hassliebe
Trier und die Rallye. Selten liegen Lust und Last so nahe beisammen. Die einen flüchten, die anderen kommen zum „Circus Maximus“. Sébastien Ogier gewinnt die Gesamtwertung, Seriensieger Sébastien Loeb holt sich den Triumph auf dem Trierer Stadtkurs. Das sind die harten Fakten. Die Geschichten rund um das zweistündige Spektakel zwischen Porta und Balduinbrunnen schreibt das Leben neben der Rennstrecke. Vor und nach dem modernen Wagenrennen. Ein Hauch von Monte Carlo an der Mosel: Schampus auf dem Balkon, Bier in Plastikbechern, blaue Kondome für Parkuhren und Benzin-Geruch zwischen Patrizierhäusern.
TRIER. Spät in der Nacht zischt die blaue Flamme auf. Der Gasbrenner spuckt Feuer. Nahezu gespenstische Ruhe auf der Christophstraße. Seltsam schon, dass erst ein Spektakel um Autos die Autos verbannt. Kinder spielen in den späten Abendstunden Fußball zwischen Alleebäumen und Hausfassaden – mitten auf der Fahrbahn. Ein wenig ist es so wie damals, als die Kohlenstraße im Winter den Schlitten und Kindern gehörte. Lang, lang ist’s her. Nach dem letzten Krieg. Fast wie aus einem anderen Leben. Die blaue Flamme züngelt immer noch, frisst die gelben Hilfslinien weg. Die braucht jetzt keiner mehr. Denn Busse dürfen hier zwischen Porta und Balduinbrunnen nicht mehr parken. Die Kulturtouristen haben Pause. Einmal im Jahr gehört die Trierer Innnenstadt den Benzin-Jüngern. Laut, lauter, Rallye. Last für die einen, pure Lust für die anderen.
So hatte das weit über seine Grenzen hinaus bekannte ADAC-Spektakel, dessen martialischer Name „Circus Maximus“ im römischen Trier durchaus bewusst gewählt ist, längst seine Geschichten und Geschichtchen, als am Sonntag der Startschuss für die 107 getunten, grellen Boliden fiel. Von einem jungen belgischen Ehepaar, das buchstäblich in letzter Sekunde sein Wohnmobil vom Abschlepphaken holte, von Kameramännern, die längst Stunden vor dem lauten Donner aus Auspuffen und Motoren in Regenhüllen dem himmlischen Donnerwetter trotzen mussten. Noch bevor die Deutschland-Rallye mit dem Franzosen Sébastien Ogier ihren offiziellen Sieger vor dem Schwarzen Tor feiern konnte, gab es schon Gewinner und Verlierer. Ogier entthronte seinen Landsmann Sébastien Loeb, den achtmaligen Seriensieger. Dafür holte sich Loeb zumindest den Triumph auf dem Trierer Stadtkurs. Ein wenig Revanche, ein wenig Genugtuung. Von den Geschichten am Rande wussten Ogier und Loeb nichts. Sie hatten den Lorbeer, das genügte.
Samstagnachmittag in Trier: Die jährlich stattfindende Rallye hat längst ihre Schatten voraus geworfen. Seit Tagen, Wochen weisen Hinweisschilder, vorsorglich platzierte Halteverbotsschilder auf den Tag der Tage hin, wenn die waghalsigen Männer in ihren fast fliegenden Kisten die hochherrschaftlichen Alleen von Trier in den motorisierten „Circus Maximus“ verwandeln. Viele Eingeborene verziehen sich weit weg. Wie Student Manuel, der schon am Donnerstag die Flucht angetreten hatte. „Das tu‘ ich mir nicht an – nein, danke!“ Sprach’s, schulterte seinen Rucksack und marschierte zum Bahnhof: Auf Wiedersehen Trier, bis Montag dann! Andere stellen die Schampus-Flaschen kalt, die Eiskübel auf den Balkon. Ein Hauch von Monte Carlo. Nur die Boxenluder fehlen. Keine vollbusigen Pin-up-Girls in Hotpants und High-Heels. Aber es ist ja auch nicht die Formel 1.
Unten in den Parkbuchten entlang der Parkuhren, denen schon früh blaue Riesenkondome übergezogen wurden, um den Geldeinwurf unwissender Zeitgenossen in die kleinen Schlitze zu verhindern, ist es fast unmöglich, die Vielzahl der Zeichen und Hinweise darauf zu ignorieren, dass die Rallye alles verdrängt. Aber eben nur fast. Nicht nur ausländischen und fremden Gästen ist dieses nicht alltägliche Kunststück dennoch gelungen, auch sesshafte Trierer schafften es, den Tag offenbar aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Außer sie neigen zur bewussten Revolte. Was kaum anzunehmen ist.
Denn anders ist die Vielzahl verlassener und vergessener Autos entlang der Rallye-Strecke am späten Samstagnachmittag kaum zu erklären, die Abschleppunternehmen den Umsatz des Jahres bescherten. Da ist der alte, schon leichte verbeulte blaue Kleinwagen mit Trierer Nummernschild, bei dem die Abschleppkosten für den glücklosen Halter wahrscheinlich den Wert seines in die Jahre gekommenen Fahrzeuges übersteigen dürften. Da war aber auch der junge Belgier, der in Rekordzeit die Christophstraße entlang sprintete und gerade noch rechtzeitig sein weißes Wohnmobil vom vorsorglich angebrachten Abschlepphaken rettete. Wie groß sein Glück im Unglück wirklich war, vermag der sportliche Tourist kaum ermessen – denn nur die Tatsache, dass sein Gefährt das letzte auf der langen Abschleppliste war, verhalf ihm zur Rettung in letzter Sekunde. Der tiefe Griff ins Portemonnaie dürfte ihm eine heilsame Lehre sein. Zahlen musste er – da kannten die Frauen und Männer in Uniform kein Erbarmen.
Doch nicht nur parkende Autos müssen für den Spaß der Motorfreunde weichen, wenn die ADAC-Rallye die Römerstadt zum kleinen Monaco an der Mosel macht – selbst provisorische Busspuren müssen in nächtlicher Arbeit weggefräst, knallrote Dixieklos im beschaulichen Alleenweg installiert und kilometerlange Absperrungen auf freien Fußgängerwegen aufgebaut werden. So nimmt es kaum wunder, dass nicht nur Tausende von Motorsportfans in die Mosel-Metropole reisen, sondern vielleicht auch ebenso viele das Weite suchen, in beschaulichen Orten oder ruhigen Weinbergen, fernab von PS-starken Autos, die teils wie der getunte Traum eines pubertierenden Halbstarken anzuschauen sind. Des einen Last, der anderen Lust.
Junge Männer, schon früh an den Gitterabsperrungen, um den besten Blick auf die donnernden Gefährte erhaschen zu können, waren denn auch mit die ersten Gäste am „Circus Maximus“. Lauter, schneller, bunter, das waren die Attribute, die an diesem Sonntag von den fahrenden Gladiatoren gefragt waren. Freunde der leisen Töne und der beschaulichen Feiertagsruhe mussten ihr Heil abseits der lärmenden Innenstadt suchen. Zwei Stunden, inklusive der vorangehenden Showfahrt, zeugten lärmende Motoren, quietschende Reifen und klatschende Zuschauer von der Faszination des Motorsports, der wie ein brüllender Anachronismus alle Angriffe einer ökologisch korrekten Gesellschaft überlebt hat. Ein Liter Fia-Benzin kostet 4,86 Euro. Und das in unmittelbarer Nähe zu Luxemburg.
Doch die Erben von Ben Hur im 21. Jahrhundert können sich auch heuer einer fester Fangemeinde ihrer modernen Wagenrennen sicher sein. Das ist auch gerade im fest in römischer Tradition stehenden Trier nicht anders, dem dieses Jahr auch medial noch größere Aufmerksamkeit zuteil wurde – live und in Farbe flimmerte das Rennen im Sportfernsehen über den Bildschirm. Dass die großen Massen an Zuschauern ausblieben, mag am Wetter des Vormittags gelegen haben. Offensichtlich war, dass diesmal weit weniger Motorsport-Enthusiasten auf den „Circus Maximus“ pilgerten als noch vor einem Jahr. Blitz, Donner und strömender Regen waren am Vormittag über Trier niedergegangen. Der meteorologische Dienst hatte zudem eine Wetterwarnung herausgegeben. Doch Petrus und PS scheinen zu passen. Die Sonne kam, und die Spiele konnten beginnen.
Nach zwei Stunden war der rollende Spuk vorbei. Lorbeer für den Sieger, Schweiß für die Helfer. Und neue Ruhe für die Trierer. Der „Circus“ zieht weiter. Bis zum nächsten Jahr. Wenn alles gut geht, hoffen die einen. Bloß nicht, die anderen. Lust und Last. Trier und die Rallye – eine echte Hassliebe.
von Eric Thielen