Die Lust am gruseligen Anachronismus

Mit „Northanger Abbey“ bringt Trier English Drama zum zweiten Mal nach 2009 ein Stück von Jane Austen auf die Bühne. Und zum zweiten Mal gelingt der Spagat, einen viktorianischen Gesellschaftsroman, der mit zeitgebundenen Anspielungen gespickt ist und über einen eher verwirrenden Plot verfügt, übersichtlich und nachvollziehbar aufzuführen – in überwiegend bestem Englisch.

TRIER. Wer Loriots Fernsehansagerinnen-Sketch im Gedächtnis hat, konnte am Sonntag in der ausverkauften Tuchfabrik feststellen, dass Vicco von Bülow sich für das fiktive Fernsehstück „Die zwei Cousinen“, bei dessen Zusammenfassung Evelyn Hamann so herrlich scheitert, nicht all zu viel Handlung selbst ausdenken musste: Die komplett verwirrende Familiengeschichte, die sich auf mehreren Landsitzen in der britischen Upper Class abspielt, könnte eins zu eins aus einem Roman von Jane Austen stammen – zum Beispiel aus „Northanger Abbey“.

Catherine Morland (Kristina Heitzer), eine zuckersüße 17-jährige Schönheit vom Lande mit ausgeprägtem Hang zu Gruselgeschichten, verliebt sich in der Sommerfrische in den geistreichen Gentleman Henry Tilney (André Manchen), wird aber gleichzeitig von dessen weniger geistreichem Bruder Frederick (Thomas Wahrlich) und dem überhaupt nicht geistreichen Pferdehändler John Thorpe (Mathias Zimmer) umworben. Gleichzeitig verlobt sich ihr etwas einfältiger Bruder James (Christian Lühr) im Eilverfahren mit Isabella Thorpe (Annika Toll), der überhaupt nicht einfältigen Schwester des rauhbauzigen Pferdehändlers. Isabella lässt sich allerdings nicht davon abbringen, gleichzeitig heftig mit Frederick Tilney zu flirten – man ahnt schnell, dass es dabei nicht um die große Liebe geht, sondern um familiären Reichtum, beziehungsweise das angebliche Vorhandensein des selben.

Catherine wird von den Tilneys auf deren Landsitz Northanger Abbey eingeladen, was der großen Dracula-Anhängerin mit der blühenden Fantasie sehr entgegenkommt – die Frage, ob die vor einiger Zeit verstorbene Mutter Tilney (Nike Larrá) vielleicht von ihrem etwas zwielichtigen Ehegatten, dem General Tilney (Thomas Dewitz) um die Ecke gebracht worden sein könnte, ist allemal spannender als der langweilige Familienurlaub in Bath. Das alte Hausmädchen der Tilneys, Dorothy Kenwick (Christian Lühr in einer waghalsigen Doppelrolle), leistet diversen Mordtheorien gerne Vorschub. Solcherlei Ideen stehen einem Happy End zwischen Catherine und Henry im Wege, doch selbstverständlich klärt sich am Ende alles auf: Henry versichert, dass seine Mutter eines natürlichen Todes starb, der General gibt seinen, zwischenzeitlich aus finanziellen Überlegungen heraus verweigerten, Segen (weil Henrys Schwester reich heiraten wird), und alle sind glücklich.

Soweit der Versuch einer Zusammenfassung, ohne dabei wie Evelyn Hamann zu verzweifeln. Allerdings: das ist nur die halbe Wahrheit, denn schon in scheinbar harmlosen Situationen, zum Beispiel beim ersten Abend in Bath, übernehmen in Catherines Hirn die zahllosen Romane, die sie gelesen hat, die Regie. Aus völlig normalen Menschen werden – für den Zuschauer deutlich sichtbar – Vampire, Monster, der Glöckner von Notre-Dame oder auch das Phantom der Oper. Diese Eigenheit des Stücks beruht auf der Tatsache, dass Jane Austens posthum erschienener Roman eine Satire auf das damals grassierende Gothic-Novel-Fieber darstellt – „Northanger Abbey“ ist eine Art „Scream“-Tetralogie für das viktorianische Zeitalter.

Es sind diese Fantasie-Szenen, die das Stück interessant machen, und sie sind hervorragend umgesetzt: John Thorpes Blitzverwandlung in Quasimodo während einer Kutschfahrt ist beste Slapstick-Comedy mit dem einfachen Mittel guter Körperbeherrschung – Mathias Zimmer trifft den Stil genau. André Manchen, wie er als Phantom der Oper seiner Angebeteten Catherine die Vampirfamilie Tilney-Thorpe in Zeitlupe vom Leib hält ist mindestens genauso gut. Das Highlight der Horror-Fantasien, die allesamt durch geschickt gesetzte Licht und Toneffekte eingeführt werden, ist aber Catherines Mordtheorie: drei oder vier Mal muss sich Nike Larrá von Thomas Dewitz in einer simplen aber perfekt getimeten Choreographie mit dem Hackebeil abschlachten lassen, während Catherine und das Hausmädchen nachdenklich daneben stehen.

Den Beteiligten, allesamt Amateure, ist die unbändige Lust an diesem Klamauk deutlich anzumerken, Kristina Heitzer sticht dabei in der Hauptrolle der naiven Leseratte aus einem durchweg guten schauspielerischen Niveau heraus. Ihre Catherine ist der Vorlage angemessen naiv, dabei aber alles andere als dumm – sie stellt sich nur bildlich vor, was andere nicht sehen oder denken wollen. Damit passt sie zu André Manchens Henry, dem eleganten Charmeur. Man glaubt ihm, dass er es ernst meint – und auch den erlösenden Kuss zum Schluss kauft man den beiden ab.

Ein kleiner Wermutstropfen: Christian Lühr spielt den, zugegeben, etwas dämlichen James Morland total überdreht, kasperhaft und aufdringlich kindlich – dank seiner Doppelrolle hat er aber ausreichend Gelegenheit, diesen Lapsus wieder gutzumachen. Im zweiten Teil brilliert er als altes Hausmädchen Dorothy – hier hat er sich mimisch wie gestisch mit einiger Sicherheit bei Terry Jones bedient, wenn der mal wieder für Monty Python britische Hausfrauen spielen musste. Nur Dorothys Akzent ist, „truly gothic“ ein sehr deutscher, doch auch das passt voll ins Bild.

Zwar ist das Stück voller Anachronismen: Catherine liest „Dracula“, ein Buch, das zu Austens Lebzeiten noch lange nicht veröffentlicht war, auch „Der Glöckner von Notre Dame“ kam natürlich erst viel später. Doch ist das lediglich inszenatorische Chuzpe, erlaubt es doch, den Traumsequenzen zum Beispiel mit Vampirgebissen den letzten Schliff zu geben.

Überhaupt leistet die gründliche Regie von Christoph Nonn, wie schon 2009 bei „Pride and Prejudice„, ihren Teil, um das eigentlich unübersichtliche Stück zu ordnen, den Zuschauer nicht allein zu lassen und darüber hinaus komische Glanzlichter zu setzen. Hervorragend gelöst ist zum Beispiel das Ende: Catherine und Henry dürfen trotz fehlender Mittel heiraten – weil Henrys Schwester Eleanor (Johanna Lauer) reich heiraten wird. Den dazugehörigen Zukünftigen sieht der Zuschauer nicht – und Hausmädchen Dorothy erklärt, in einem gewagten aber erfolgreichen Rollenbruch, dass es dramaturgisch nicht angezeigt sei, eine Nebenfigur, und sei sie noch so wichtig, so kurz vor Schluss zum ersten Mal über die Bühne zu schicken. Trier English Drama hat offensichtlich einen augenzwinkernden Bildungsauftrag, bei dessen Erfüllung nur ja keine Langeweile aufkommen soll. Diese Einstellung hört an der Bühnenkante nicht auf: Das ebenso unterhaltsame wie informative Programmheft klärt viele Fragen.

Zusammengefasst bietet „Northanger Abbey“ ehrliches, leidenschaftliches Theater mit vielen guten Einfällen – das Publikum im großen Tufa-Saal dankt es der Gruppe mit langanhaltendem Applaus und voraussichtlich einer weiteren ausverkauften Vorstellung am heutigen Dienstag (20 Uhr).

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