Der imaginäre Zeitgeist

Als der heranwachsende Frank Jöricke im Jahr 1986 das neu erschienene Zeitgeistmagazin TEMPO in die Hand bekam, hatte sein Leben mit einem Mal einen Sinn. Fortan widmete er sich dem Aufspüren des Zeitgeistes, obschon selbst TEMPO-Gründer Markus Peichl bereits gewusst hatte, dass der Begriff eine Worthülse ist, in die alles und nichts hineinpasst. Jörickes gerade veröffentlichtes Büchlein „Jäger des verlorenen Zeitgeists“, in dem laut Untertitel der Autor nicht weniger als die Welt erklärt, zeigt, dass man in diese Hülse wie in eine Fleischwurst wirklich alles reinstecken kann – notfalls hilft der Cutter.

Der Zeitgeist weht – darin gleicht er einem warmen Darmwind – wo er will, und man kriegt ihn schwer zu fassen. FJ löst das Problem, indem er diesen ominösen Geist in seinem eigenen Hirn erschafft, so dass er gar nicht erst in die reale Welt hinauszuschauen braucht, geschweige, dass er sie einer analytischen Prüfung unterziehen müsste.

Nein, für ihn besteht die Welt aus seinem eigenen zerebralen Elektrosmog, den er nur noch sprachlich fassen muss, um daraus die angebliche Realität zu konstruieren. Insofern er diese Scheinrealität missionarisch nach außen trägt, ist FJ in seiner Ich-Bezogenheit ein – wenn auch kleiner Teil – der Bewusstseinsindustrie, die dazu dient, Blödheit zu produzieren.

Es ginge auch anders; das Talent dazu hat er ohne Zweifel. Die Erkundungen von zum Beispiel Klaus Theweleit oder Georg Seeßlen zeigen, was an verblüffenden Erkenntnissen über eine Gesellschaft herausspringen kann, wenn man sich ernsthaft der populären Musik, des Films oder des Fußballs annimmt. Das macht allerdings Arbeit und erfordert einen festen Standpunkt. Den sucht man bei FJ vergebens.

Der Untertitel seines Buches „Frank Jöricke erklärt die Welt“ hat zwar einen Hauch von ungewohnter Selbstironie, ist jedoch nichtsdestoweniger ein hochstaplerisches Versprechen auf einen Gewinn, der nicht ausgezahlt wird. Die angebliche Jagd nach dem Zeitgeist entpuppt sich als eine Kaffeefahrt, von der die Leser als Betrogene zurückkommen. FJ serviert ihnen insgesamt dreiundvierzig Blubberblasen, die er als „Zeitgeistentdeckungen“ ausgibt. Sie sind entweder banal, gänzlich sinnfrei oder formulieren in wichtigtuerisch gedroschenen Phrasen eine Bedeutung, die sie nicht haben.

Einige Beispiele:

Die Geschichte von Bettina und Christian Wulff erzählt er als „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“, so, als ob Geltungssucht und Bestechlichkeit das Wesen des Kapitalismus ausmachen würden. Doch das Wulff-Pärchen zeigt eher das Streben des provinziellen Kleinbürgers nach den Statusinsignien einer quasi feudalen Oberschicht. Aber diese Interpretation ist wohl zu nah am eigenen Leib.

Als Zeitgeist-Lehrsatz formuliert er: „Karl Marx hat immer noch recht: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Da hätte er noch banaler formulieren können: „Sage mir, mit wem du ausgehst, und ich sage dir, wann du heimkommst.“

Schön und lobenswert ist allerdings die Überschrift. FJ nimmt den ursprünglichen Buchtitel „Liebe in Zeiten der Cholera“, ersetzt „Cholera“ durch „Kapitalismus“ und bringt den Leser dazu, Kapitalismus mit Pest und Cholera zu assoziieren. Da zeigt sich der meisterhafte Werbetexter – leider hat er es so nicht gemeint!

Wenn FJ in großen Sprüngen durch die Weltgeschichte stürzt, gelingen ihm kabarettreife Pointen. Die Geschichte der Selbstverwirklichung lässt er mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beginnen und immer wieder scheitern. Erst im Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre sei sie gelungen. Und wer war schuld? „Ohne Wohlstandsbauch kein hungriges Herz. Ohne Ludwig Erhard keine Uschi Obermaier und kein Rainer Langhans.“ Daraus lässt sich schlussfolgern, dass mit der Selbstverwirklichung jetzt endlich Schluss ist, Gottseidank! Aber vielleicht kauft ihm die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ diese Sätze mal ab.

Ein ganz schlimmes Jahr im Lebenslauf von FJ ist 1968 – da war er ein Jahr alt. Aber später beim Pubertieren haben ihm die 68er und Alt-68er, die BAPs, Niedeckens und Bonos jeden Spaß und die Freude am Leben vermiest. Und dann diese Liedermacher, die IHM die Welt erklären wollen, wo er doch eigens dazu Guildo Horn auf den Schild gehoben hat!

Um die Deutungshoheit zu gewinnen, erklärt FJ kurzerhand 1968 zum Jahr des Schlagers und bestimmt, dass „Peter Alexander revolutionärer war als Rudi Dutschke.“ Von diesem Schlag sollte sich der linke Zeitgeist erst 2011 wieder erholen, als Frank Schirrmacher in der FAZ äußerte, dass die Linke vielleicht doch Recht haben könnte. FJ hingegen ist seitdem in die Nachhut der Zeitgeisthorden zurückgefallen.

Während der Lektüre der einzelnen Lesehäppchen wird der Verdacht schnell zur Gewissheit: Es geht dem Verfasser überhaupt nicht um Inhalte, sondern um sprachliches Artistentum, das ohne Bedeutungszuweisung auskommt. Darin ist er gut. Nach eigener Aussage hat er zu Sprache ein Verhältnis wie ein Schreiner zu Holz: „Ich will sie in Form bringen und sie so lange schleifen und wienern, bis sie glänzt.“ Der Autor als Schwingschleifer. Zum Glück hat er keinen Schuhmacher zum Vorbild. Bekanntlich macht der weiter nichts, als so lange zu wichsen, bis die Schuhe glänzen.

Das Buch kann allen Trierern, die sich ihrer Provinzialität schämen, empfohlen werden. Frank Jöricke jedenfalls dankt devot dem Trierischen Volksfreund, „weil er in der Provinz erscheint, aber nicht provinziell ist“. Frank – war denn wirklich alles für die katz*?

Helmut Schwickerath

*Frank Jöricke war einige Jahre Mitarbeiter der katz, der kleinen anderen Trierer Zeitung, die Ende der 70er als Zeitung, danach als Magazin und zuletzt bis 2007 als Jahrbuch erschien. Mitbegründer und letzter Herausgeber war Helmut Schwickerath.

Jöricke, Frank: Jäger des verlorenen Zeitgeists. Frank Jöricke erklärt die Welt. Münster, Solibro. 2013.

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