Das Reich der Mitte ist kein Herz

gudd stubbDas Reich der Mitte liegt im Herzen Europas und ist so etwas wie die „Gudd  Stubb“ des Kontinents. Die Rede ist von der Kulturgemeinschaft Großregion, welche in dem opulenten Band „Au centre de l’europe. Im Reich der Mitte2“ porträtiert wird, den die Saarbrücker Kunsthistorikerin Eva Mendgen herausgegeben hat. Mendgen knüpfte in den vergangenen Jahren ein die jeweiligen Landesgrenzen überschreitendes und kreatives Netz aus über 80 Autoren, Grafikern, Fotografen und Übersetzern. Mehr als 60 Beiträge umfasst ihr nun erschienenes Werk. Das mehrsprachige Buch ist Liebeserklärung und Mahnung zugleich – an die Großregion und an deren kulturelle Zukunft.

Die Großregion in Herz-Form ist wie ein Wunschbild, das die Herausgeberin dem Vorwort von Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker prägnant voranstellt. Katharina Bihler und Stefan Scheib vom Saarbrücker Liquid Penguin Ensemble haben das Bild 2009/2010 verwendet, um die landschaftliche Fläche zu umschreiben. Immerhin beinhaltet die Großregion das Großherzogtum Luxemburg, die beiden Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland, die französische Region Lothringen mit vier Departements sowie die belgische Regionalregierung Wallonien mit französischer und deutscher Gemeinschaft.

Um aus der knapp 2000 Kilometer langen Außengrenze jedoch eine Herzform zu denken, ist einige Fantasie notwendig. Was zählt. ist der im gesamten Buch so präsente Wunsch nach etwas Gemeinsamem. Die Kulturregion, die 2007 als Kulturhauptstadt so positive Akzente gesetzt hat, soll in den Köpfen weiter wachsen und die mehr als elf Millionen hier lebenden Bürger im kulturellen Diskurs näher zusammen bringen. Schon 2007 hat die Herausgeberin mit dem bereits vergriffenen Vorgänger-Band „Im Reich der Mitte. Le berceau de la civilisation européenne“ Geschichte, Kultur, Arbeit und Leben in der Großregion umfangreich editiert.

Der Sammelband beinhaltet Beiträge von 35 Autoren aus der Großregion, die hier persönliche Eindrücke, interessante Porträts, historische Einordnungen und aktuelle Spannungsfelder aufzeigen. Auch wenn einige Beiträge – gerade zum Einstieg in das Thema – zu arg an Lexikonartikel erinnern, ist die Themenvielfalt so breit wie die Kulturregion groß ist. Da die meisten der hier Lebenden und durchaus Kulturinteressierten jedoch die Medien ihrer Nachbarländer und -regionen wohl nicht regelmäßig konsultieren, bieten die aufgearbeiteten Themen einen guten Überblick über den Status quo der sie umgebenden Region. Denn die großen Beiträge lassen sich sowohl in deutsch als auch auf französisch lesen. Wenige anderssprachige Texte, Zitate oder Gedichte sind jedoch nicht übersetzt worden, was beim Lateinischen dann wirklich akademisch wird.

Es ist der Blick auf das Detail, was uns die Nachbarregionen näher bringt. Zum Themenbereich der Grenzregionen wird beispielsweise der Wein als Kulturgut aller Länder anschaulich besprochen. Der Blick auf die Religionen reicht exemplarisch vom ehemaligen Frauenkloster im Schengener Schloss über das Trierer Irminenkloster bis hin zur Bingener Hildegard am Rhein. Doch auch das 20. und 21. Jahrhundert mit seinem sich vor allem in der Industrie vollzogenem Strukturwandel wird kritisch betrachtet. Einblicke in die niedergegangene Eisen- und Stahlindustrie werden mit Porträts von zukunftstauglichen Industrien wie der Windenergie begleitet.

Vor allem in den Städteporträts wird deutlich, dass gerade die Orte, die nicht von Touristen übervölkert werden, ihre Reize haben und durchaus den Besuch über die seit 1995 offenen Grenzen lohnen. Wann waren Sie eigentlich zum letzten Mal in Longwy, Namur, Eupen oder Kaiserslautern und haben Dinge gesehen oder erlebt, die Sie nie geahnt hätten? So steht beispielweise im Text über Trier nicht die Porta Nigra im Fokus, sondern der Luxemburger Jean-Claude Juncker – ein erfrischender Beitrag von 16vor-Herausgeber Marcus Stölb, der auch Trierern so einiges Neues offenbaren dürfte. Einen regelrechten Appell an eine nachhaltige Entwicklung der Großregion richtet der Luxemburger Claude Gengler im letzten Abschnitt. Hier wird die Großregion als Teil Europas und der Welt betrachtet.

cover im reich der mitteMit 239 Abbildungen ist „Im Reich der Mitte2“ zugleich ein Bildband. Der überwiegende Teil der Farbfotografien stammt von Kai Loges und Andreas Langen, die auch schon den Vorgängerband ausgestattet haben. Von der doppelseitigen Panoramaaufnahme bis hin zu Seiten mit über 20 Impressionen reicht das Portfolio an Blicken in die Großregion. Perfekte Architekturaufnahmen wechseln sich mit stimmungsvollen Stills ab. Kleinere Porträts von Menschen aus der Region begleiten die im Vergleich dazu raren Landschaftsaufnahmen. Die Bildqualität jedoch ist nicht einheitlich hochwertig. So fällt nach geradezu perfektionistisch in Szene gesetzten Fassaden (S. 70/71, 124 od. 182) und Innenräumen (S. 58, 78) durch den Weitwinkel verzerrte Architektur (S. 51, 191 od. 170 links oben) negativ auf. Umso eindrücklicher sind die Szenen aus dem Leben: Schnappschüsse, die einfach sitzen, wie der „Gudd-Stubb“-Pavillon in Schmelz oder die Kirmesszene aus Uckange. Dies sind die wenigen großformatigen Bilder, auf denen auch Menschen zu sehen sind, ansonsten ist eher die Architektur im Mittelpunkt.

Wo sind hier nur die ganzen Europäer, die wir kennen lernen sollen, um aus der Großregion ein weiterhin lebendiges kulturelles Projekt werden zu lassen? Zu hoffen ist, dass dies auf alle Fälle lebendiger bleibt, als der Tanz- und Kinosaal im französischen Großblittersdorf, in dem sich Kartons stapeln und sicher vor langer Zeit das letzte elsässische Meteor gezapft worden ist. Eine Einladung dazu ist das Buch allemal.

Au centre de l’europe. Im Reich der Mitte2. Des liens et des lieux / Kulturgemeinschaft Großregion — Grande Région. Hrsg. von Eva Mendgen, 240 Seiten, 239 Abbildungen, Saarbrücken 2013, ISBN 978-3-86628-393-0, Preis 50,00 Euro.

Das Buch ist in Trier erhältlich in der Genussgesellschaft in der Nagelstraße, in der Buchhandlung Stephanus in der Fleischstraße sowie deren Filiale an der Universität. Bestellungen sowie weitere Informationen gibt es unter info@regiofactum.com oder über das Redaktionsbüro Texternes.   

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