Wie sich Jorge Semprún an Trier erinnerte

Weshalb sollte man in einem Trierer Stadtmagazin an jemanden erinnern, der am Dienstag im Alter von 87 Jahren verstarb und der gerade mal eine halbe Stunde seines Lebens in dieser Stadt verbrachte? Der sonst nichts mit Trier zu tun hatte? Der außerdem den Zug, mit dem er unterwegs war, in Trier nicht einmal verließ, etwa um sich die schöne Stadt anzuschauen? Sondern im Zug blieb, der auf den Gleisen des hiesigen Bahnhofs stand, beim kurzen Halt?

Was kann uns dieser alte Herr erzählen?

Da steht vor vielen Jahren also ein Zug auf dem Trierer Hauptbahnhof, darin befindet sich ein junger Mann, der später ein großer Schriftsteller sein wird, und der sich in seinem ersten Buch auf einigen Seiten an Trier erinnert. An seinen kurzen Aufenthalt auf dem Trierer Bahnhof. Der Roman heißt „Die große Reise“, der Zug hatte keine Fenster. Nur Güterwagen.

In seinem Roman schreibt er 1963 über Trier:

„Auf dem Bahnsteig stehen Leute, und jetzt merken sie, dass wir kein gewöhnlicher Zug sind. Sie müssen gesehen haben, dass sich hinter den vergitterten Löchern Gestalten bewegen. Sie reden miteinander, zeigen mit den Fingern auf den Zug und gebärden sich ganz aufgeregt. Genau unserem Wagen gegenüber steht ein etwa zehnjähriger Junge mit seinen Eltern. Er horcht, was sie sagen, schaut zu uns herüber und nickt mit dem Kopf. Dann rennt er davon. Und kommt mit einem Stein in der Hand wieder angelaufen. Und nähert sich uns und schleudert mit aller Kraft den Stein gegen die Öffnung, neben der wir stehen. Blitzschnell werfen wir uns zurück, der Stein prallt vom Stacheldraht ab, um ein Haar hätte er den Jungen aus Semur ins Gesicht getroffen. ‚Und jetzt‘, sagt er, ‚kennst du die Boches immer noch nicht?‘ Ich antworte nicht. Eine ganz verflixte Schweinerei, denke ich, dass das ausgerechnet in Trier passieren muß. Dabei gäbe es doch noch so viele andere deutsche Städte auf unserem Weg.“

Der Spanier Jorge Semprún berichtet in seinem Roman vor allem über seine Deportation per Güterzug ins Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Die Fahrt findet in einem Viehwaggon statt, gemeinsam mit 119 Leidensgenossen. Kein Wasser, kein Essen, keine Toilette, keine Luft. Die Mehrzahl der anderen Menschen im Zug hatte später keine Gelegenheit mehr, sich zu erinnern.

Ralf Kotschka

Die gesamte Szene wurde auf Anregung des Autors in Hans Ulrich Seiferts Buch „Trier in alten und neuen Reisebeschreibungen“ (Droste Verlag 1993) aufgenommen. Der Roman „Die große Reise“ von Jorge Semprún erscheint seit 1981 bei Suhrkamp. 1994 erhielt Semprún den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Laudatio ging Wolf Lepenies auf Semprúns Halt in Trier ein.

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