„Die kleinen Fortschritte machen am glücklichsten“
In der Saison 2010/11 landeten die Fußballer der TSG Trier-Biewer II mit 27:103 Toren und neun Punkten abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz in der Kreisliga D – der untersten Spielklasse des Fußballverbandes Rheinland. Ein herbes Schicksal, denn im Sport gebührt Anerkennung meist nur dem Sieger. Doch woher schöpft ein immer wieder geschlagenes Kollektiv stetig neue Kraft? 16vor traf den Biewerer Trainer Sascha Carl auf dem Sportplatz seines Vereins und sprach mit ihm darüber, wo das Durchhaltevermögen seiner Mannschaft herkommt, wieviel Wahrheit in dem Klischee vom bierseligen Amateurfußball steckt und was seinen Sport trotz aller Niederlagen weiterhin so faszinierend macht.
Es ist mal wieder schlechtes Wetter an diesem einmal mehr viel zu unsommerlichen Augusttag. Kalt weht der Luftzug über das Trainingsgelände der TSG Trier-Biewer. Zum vereinbarten Interview-Termin wartet Trainer Sascha Carl mitten auf dem zugigen Hartplatz, als wolle er dem Mistwetter trotzig seine Zähigkeit entgegenhalten.
16vor: Herr Carl, ist es einfacher, den FC Barcelona mit all seinen Weltstars zu trainieren, als eine Kreisligamannschaft wie die TSG Biewer?
Sascha Carl: So genau kann ich das natürlich nicht sagen, weil ich noch nie ein Weltklasse-Team trainiert habe. Aber wahrscheinlich ist es auf der sportlichen Ebene wirklich einfacher. In Barcelona musst du ja keinem mehr das Fußballspielen beibringen. Bei uns in Biewer kann es dagegen auch schonmal vorkommen, dass ich den Spielern ein wirklicher Fußballlehrer sein und damit nicht selten sogar beim Allereinfachsten beginnen muss – dem Ballstoppen.
16vor: Dann dürfte es umgekehrt aber auch leichter sein, die Spieler zu motivieren, weil sie nicht des Geldes wegen, sondern aufgrund ihrer Fußballbegeisterung mehrmals die Woche auf dem Platz stehen?
Carl: Da ist sicher was dran. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Barcelona eine Kameradschaft gibt wie bei uns, wo die meisten auch außerhalb des Spielfeldes miteinander zu tun haben. Bei uns stehen ganz klar die sozialen Aspekte im Vordergrund – ob nun durch unsere traditionelle Saisonabschlussfahrt nach Düsseldorf, die Weihnachtsfeier oder eine bald wieder anstehende Reise zum Oktoberfest in Wittlich. Es bringt einem Hobbyfußaller wenig, wenn er seine Freizeit mit Menschen verbringt, die er nicht leiden kann. Das macht einen auf Dauer ja auch psychisch fertig. Das dürfte bei Mannschaften mit Berufsfußballern anders sein. Wobei wir natürlich genauso den sportlichen Erfolg wollen.
16vor: Genau damit sieht es zumindest bei Ihrer Zweiten Mannschaft jedoch gar nicht gut aus. In der vergangenen Saison landete sie abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz der untersten Liga. Wie gelingt es im Laufe eines ausschließlich mit Misserfolgen gepflasterten Weges durch das Spieljahr, nicht irgendwann komplett die Lust zu verlieren?
Carl: Es war sicher nicht immer einfach. Es ist nicht nur so, dass wir fast immer verloren haben. Wenn wir denn mal die Chance hatten, Punkte zu holen, dann endeten die Spiele aus verschiedenen Gründen meist doch noch unglücklich 3:6 oder 2:5. Dann sahen die Spieler trotz aller Aufbauversuche nach der Partie am nächsten Tag nur das nackte Ergebnis in der Zeitung, das den Spielverlauf oft genug nicht widerspiegelte. Bewundernswert ist, dass die Jungs sich trotzdem nie aufgegeben und es bis zum Ende konsequent und leidenschaftlich durchgezogen haben. Natürlich sind sie nicht die besten Fußballer, das wissen sie übrigens auch selbst. Aber sie wollten unbedingt unter Wettbewerbsbedingungen spielen und sich der Gemeinschaft zugehörig fühlen. Und für mich als Trainer hat das den positiven Nebeneffekt, dass es eine Reserve für die Erste Mannschaft gibt, falls es dort zu personellen Engpässen kommt.
„Elf Freunde müsst ihr sein“ ist überlebensnotwendig für den Amateurfußball
16vor: Wie sieht der Kontakt zwischen den Spielern der Ersten und der Zweiten Mannschaft aus?
Carl: Alle Aktivitäten außerhalb des Platzes werden zusammen unternommen und man respektiert sich gegenseitig nicht nur, sondern ist sich meist freundschaftlich verbunden, feuert sich gegenseitig bei Spielen an. Und im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen trainieren bei uns beide Mannschaften zusammen. Nicht nur, weil ich beide Teams trainiere, sondern auch, weil ich der Meinung bin, dass das heutzutage oft abwertend verwendete Motto „Elf Freunde müsst ihr sein“ für den Amateurfußball überlebensnotwendig ist.
16vor: Stammt aus solcherlei Sichtweisen auch das reichlich verzerrte, aber weit verbreitete Klischee vom Amateurfußballer, der nur deshalb im Verein spielt, weil er sich auf das Bier danach freut?
Carl: Das kann schon sein. Dieses Klischee pflegen aber eigentlich nur Leute, die nie selbst Fußball gespielt haben. Bei unserer „Zweiten“ gilt zwar durchaus, dass das Ergebnis absolut zweitrangig ist. Aber der Spaß am Sport ist jedem dennoch in jeder Spielminute deutlich anzumerken. Dass man sich daran erfreut, eine schöne Zeit in geselliger Runde zu verbringen, widerspricht der Fußballbegeisterung ja überhaupt nicht. In unserer Leistungsgesellschaft scheint das aber wohl nicht jeder nachvollziehen zu können.
16vor: Gelten bei Ihrer „Zweiten“ typische Gewohnheiten wie ein sportliches Saisonziel?
Carl: Nein, ein Saisonziel geben wir nicht aus. Zumal unsere „Zweite“ jetzt erst in ihre dritte Runde geht. Damals wurde die Altherrenmannschaft wegen des fehlenden Nachwuchses aufgelöst. Es blieben fünf Spieler übrig, die gerne weiterspielen wollten. Da suchten wir dann neue Leute, die vielleicht fußballerisch nicht so gut sind, aber durch uns die Möglichkeit erhalten, unter Wettbewerbsbedingungen Fußball zu spielen. Von der spielerischen Konkurrenzsituation lebt dieser Sport ja ganz wesentlich. Bei uns ist eben der einzige echte Unterschied, dass wir nicht dauernd auf die Tabelle schielen, sondern mehr darauf achten, wie wir uns in jedem einzelnen Spiel im Vergleich zu den auf dem Papier meist qualitativ überlegenen Gegnern geschlagen haben.
Der 29-jährige Zerspanungsmechaniker ist an diesem Nachmittag direkt aus seiner Nachtschicht gekommen. Er hat Frau und Kind mitgebracht, die beide in Sichtweite beim kleinen Kinderspielplatz des Trainingsgeländes warten. Die beiden, sagt er, während sie ihm zulächeln, gäben ihm den entscheidenden Rückhalt, um das umfassende Ehrenamt trotz Arbeit im Schichtbetrieb durchzuhalten. Seine Frau sei bei jedem Spiel dabei, der neunjährige Sohnemann spiele sogar selbst aktiv in der Jugend. Und gewinne wesentlich häufiger als sein Vater.
16vor: Wie gehen Sie als Trainer damit um, nahezu jede Woche hoch zu verlieren?
Carl: Ich habe ja zum Glück noch den Ausgleich durch meine gleichzeitige Tätigkeit als Spielertrainer unserer „Ersten“, die zwei Jahre in Folge in einer höheren Spielklasse als krasser Außenseiter den Ligaverbleib geschafft hat. Aber ich würde diese Erfolge nicht unbedingt als Bestätigung für mein Ego brauchen. Es tut schon unglaublich gut, stetig bei jedem einzelnen Spieler die kontinuierlichen Verbesserungen zu beobachten. Am Ende sind es doch immer diese kleinen Fortschritte, die mich am glücklichsten machen.
16vor: Hat es schonmal jemand geschafft, in den Stamm der „Ersten“ aufzusteigen?
Carl: Ja, in diesem Jahr hat es zum Beispiel Fabian Feller gepackt. Der Junge kam im vergangenen Jahr zu uns und hat zuvor niemals im Verein gespielt. Er war aber immer im Training und hat Spielpraxis gesammelt und sich toll entwickelt. Dieses Jahr steht er nun fest im Kader der „Ersten“. Das ist für mich ein Musterbeispiel dafür, was mit gutem und ausdauerndem Training möglich ist. Auch diesmal sind wieder zwei, drei Spieler dabei, denen ich über kurz oder lang den Sprung nach oben zutraue.
16vor: Wollten Sie schon immer Trainer werden?
Carl: Nein, überhaupt nicht. Der Verein kam 2006 auf mich zu, als mein Vorgänger aufgehört hat. Damals war ich gerade mal 24 Jahre alt und hatte niemals diesen Gedanken, an den Trainerjob. Weil ich mich hier sehr wohl fühle, habe ich die Aufgabe dann aber gern übernommen – und es bis heute nicht im Geringsten bereut. Ich weiß aber trotzdem nicht, ob ich nochmal anderswo als Trainer arbeiten würde, wenn ich hier mal aufhöre.
16vor: Sie waren zuvor bereits seit eineinhalb Jahren als Spieler in Biewer aktiv. Wie haben Ihre Teamkollegen Ihren plötzlichen Wechsel vom gleichberechtigten Kameraden zum Chef aufgenommen?
Carl: Nicht alle waren begeistert. So musste ich erstmal den richtigen Zwischenweg finden. Teilweise hatte ich dann auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. In der Mannschaft waren damals nämlich Leute, die menschlich nicht zu uns gepasst und Unruhe reingebracht haben. Seitdem achten wir bei neuen Spielern immer darauf, dass es persönlich stimmt. Es gab schon einige, die zwar richtig gute Fußballer waren, von uns aber abgelehnt wurden, weil es zwischenmenschlich einfach nicht gepasst hat.
16vor: Klingt, als werde die Faszination Fußball in Biewer noch in ihrer ursprünglichen Form gelebt.
Carl: Wenn man es so stark ausdrücken will, ja. Unser Abteilungsleiter war immer der Überzeugung – und das hat mich letztlich überhaupt erst davon überzeugt, den zeitintensiven Job hier zu machen – dass die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Hier wird zwar nach Leistung aufgestellt, aber es wird niemand aufgrund seiner fußballerischen Fähigkeiten ausgeschlossen, wenn er ein guter Mensch ist. Es bringt mir ja nichts, in der A-Klasse zu spielen oder zu trainieren und da nur Spieler drin zu haben, die keiner mag oder die nur wegen des Geldes Fußball spielen. Deshalb gibt es bei uns auch keinerlei finanzielle Prämien. Alle Spieler bekommen alle drei Jahre neue Trainingsanzüge und neue Sporttaschen, manchmal trinken wir eine Kiste Bier oder grillen zusammen. Wir investieren lieber in die Stärkung unserer Gruppe, weil Geld an sich in unserem Kollektiv keinen Wert darstellt.
Erst ganz am Ende des Gesprächs lässt sich die Sonne doch noch einmal kurz blicken. In Sascha Carls unerschütterlichem Gemüt vermag sie hingegen auch dann zu scheinen, wenn sie objektiv gar nicht da ist. Eines Tages, sagt er beim Abschied, wolle er mit dem Junior nochmal eine Saison gemeinsam in einer Mannschaft spielen – wofür er aber noch acht bis neun Jahre durchhalten müsste. Wer seine Einstellung zum Fußball und zu dessen Bedeutung kennt, ahnt, dass das so unwahrscheinlich gar nicht ist.
von Christian Baron