Entdecken und dokumentieren

Das ehemalige Eisenbahnausbesserungswerk in Trier bietet viele Motive für Urban Explorer. Foto: pixelworxTrier ist berühmt für seine Bauwerke aus längt vergangenen Tagen. Für Urban Explorer (Stadterkunder) üben diese Objekte keine Anziehungskraft aus. Sie interessieren sich für Industrieruinen, leerstehende Wohnhäuser oder verlassene Militäranlagen – „verlorene Orte“, wo einst reges Leben herrschte. Die Eindrücke bei den oft unerlaubten Erkundungstouren werden im Bild festgehalten. Worin der Reiz von Urban Exploration liegt, erzählten zwei Trierer Urbexer im Gespräch mit 16vor.

TRIER. Die Explosion des Reaktors 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 hatte zahlreiche und schwerwiegende Folgen. Neben der Errichtung einer Sperrzone von mittlerweile 4300 Quadratkilometern und der nuklearen Belastung weiter Teile Europas, wurde auch die Stadt Prypjat, gegründet erst 16 Jahre vor dem Unglück und nur knapp vier Kilometer vom Reaktor entfernt, innerhalb weniger Stunden evakuiert. Bis zum Größten Anzunehmenden Unfall ein Ort voller Leben ist Pripjat nun eine Geisterstadt.

Ganz ruhig ist es dort aber nicht mehr, denn schon seit einiger Zeit reisen regelmäßig Touristengruppen nach Prypjat, um sich anzuschauen, wie die Natur in den letzten Jahrzehnten unter die Haut der Zivilisation kroch und nun aus den Wänden der Plattenbauten und unter den Betonplätzen wieder hervorbricht. Sieht man dies mit eigenen Augen, fühlt man sich versetzt an einen anderen Ort, in eine andere Zeit.

Die Suche nach solchen „verlorenen Orten“, ein Abtauchen in diese Parallelwelt, das treibt die beiden Trierer Urban Explorer Freddie und Ingo (Namen von der Redaktion geändert) an. Unabhängig voneinander haben sie beide vor einigen Jahren mit dem „Urbexen“, wie man Urban Exploring auch kurz nennt, angefangen. Beim Urbexen werfen sie einen Blick in leerstehende Gebäude, seien es ehemalige Industrieanlagen oder verlassene Wohnhäuser, schießen Fotos und lassen die Orte auf sich wirken. Blogs oder Fotocommunitys im Internet ermöglichen es ihnen dabei, diese Bilder einem großen Publikum vorzustellen. Trier bot sich noch vor ein paar Jahren als lohnendes Ziel zum Urban Exploring an, standen hier doch verlassene Gebäude aus den Zeiten des französischen Militärs oder der industriellen Blütezeit der Region, als in Trier-Süd noch von der Landewyck GmbH Zigaretten produziert wurden.

Auch wenn es so scheint, ist Urban Exploring nicht unbedingt ein modernes Phänomen. Wahrscheinlich haben schon immer Menschen einen gewissen Nervenkitzel gespürt, wenn sie verlassene oder verfallende Orte erkundet haben. Besonders in dicht besiedelten Städten fallen solche leeren Gebäude natürlich auf und wecken die Neugier darauf, mal über den Absperrzaun zu klettern, um Fabrikhallen und leere Wohnungen auf eigene Faust auszuspähen. Viele moderne Urban Explorer nehmen dabei ihre Fotokameras mit, um ihre Eindrücke festzuhalten, die bisweilen surrealistische Schöhnheit dieser Orte zu dokumentieren und im Internet mit anderen Interessierten zu teilen.

Fotografie als Kunst und alternative Geschichtsdokumentation

Auch für Freddie und Ingo steht die Fotografie im Vordergrund, zum einen als Kunst, zum anderen als, so formuliert es Ingo, „alternative Geschichtsdokumentation“. Bisweilen werde da auch mal ein Stuhl ins Licht gestellt, meint Freddie, es sei aber letztlich immer die Entscheidung des Künstlers, wie groß er seinen Eingriff in die Wirklichkeit gestalte. Freddie und Ingo halten sich dabei an den Kodex der Urban Explorer und nehmen nichts mit außer Fotos und hinterlassen nichts außer Fußabdrücke. Beiden ist der Respekt vor dem Ort und die Sensibilität im Umgang mit persönlichem Hab und Gut wichtiger als ein gutes Foto. „Wenn da alle Scheiben bis auf eine zerbrochen sind, dann muss ich nicht auch noch die letzte einwerfen. Die hat es eher noch verdient, heil zu bleiben“, schmunzelt Freddie.

Das Ausbesserungswerk der Deutschen Bahn war Ingos erstes Urbex-Motiv, für Freddie war es die Franzosensiedlung des Quartiers Castelnau. Mittlerweile gibt es aber viele Gebäude – wie die Turnhalle im besagten Castelnau – gar nicht mehr. Auch die alte Zigarettenfabrik wurde vor Jahren abgerissen und nun steht an ihrer Stelle das Finanzamt. Eine Trierer Fabrik für Tiefkühlpizzen wird ebenfalls dem Verfall preisgegeben. Zwar geben diese Orte fraglos gute Motive für die Kamera ab, allerdings sei es schon ironisch, sagen beide, dass ganze Wohnblocks leerstehen und rückgebaut würden, obwohl gleichzeitig Wohnungsnot herrsche. „Aber es ist billiger, die Dinger abzureißen und neue zu bauen, denn dafür gibt es Subventionen“, seufzt Freddie.

Hat Urban Exploring auch eine sozialkritische Komponente? Ingo verweist auf das Ruhrgebiet, wo leerstehende Industrieanlagen teilweise saniert und in Museen oder Ausstellungshallen umfunktioniert werden. Was hier in Trier dagegen geschehe, das sei zum Teil ein „fahrlässiger Umgang mit der eigenen Industriegeschichte“. Auch Freddie sieht eine gewisse politische Aussage in der Dokumentation des Verfalls. Fast ungläubig berichtet er, was in der Großregion, in Belgien und Luxemburg alles leersteht. „Oder fahr mal ins Saarland. Jedes zweite Dorf dort ist halbleer.“

Die von Ingo und Freddie besuchten Gebäude sind meist schon jahrelang verlassen und daher oft baufällig und schimmelig. Auf Atemmasken oder Handschuhe verzichten aber beide. Nur ihre Taschenlampen, den Fotoapparat und ein Bewusstsein für die Gefahren von brüchigen Wänden und kaputten Treppen nehmen die zwei mit in ihre unerforschten Ruinen. Man dürfe nur nicht unbedarft in ein solches Gebäude rennen und müsse zwischendurch seinen Verstand einsetzen, so Ingo. Eine durchgerostete Metalltreppe muss man nicht unbedingt besteigen, genau wie man auch nicht in abgesenkte Löcher im Boden treten sollte. Die Frage nach Sorgen wegen Schimmel oder Asbest provoziert bei Freddie nur ein Lachen. „So viel Scheiß, wie wir da schon eingeatmet haben“, winkt er ab. Man bleibe aber ohnehin nicht lange in einem solchen Haus, vielleicht ein, zwei Stunden.

Wie einen Apfel aus einem fremden Garten pflücken

Über andere Gefahren wie Wachschutz oder aggressive Nachbarn tausche man sich untereinander aus, die Trierer Urbex-Szene ist überschaubar. Meist sei das Wachpersonal aber kein Problem, wenn man den Leuten erkläre, was man dort mache. Und wenn doch mal die Polizei komme, erzählt Ingo, dann würden die Anzeigen meist fallengelassen. Immerhin, Urban Exploring ist sehr oft eigentlich Hausfriedensbruch und damit illegal. Aber man tue keinem weh und würde auch nichts absichtlich zerstören, meint Freddie und vergleicht Urbexen mit dem Pflücken eines Apfels aus einem fremden Garten.

Nervenkitzel gehört also ebenso zum Urban Exploring. Allerdings nicht in dem Ausmaß, wie Neugier, Dokumentationswillen und, wie Freddie es ausdrückt, „unterschwelliger Kunstvoyeurismus“ die Motivation darstellen, verlassene, abgesperrte Orte aufzusuchen und diese zu fotografieren. Schaut man sich die Fotos der beiden an, die sie in verfallenen Hospitälern, Fabriken oder Klostern aufgenommen haben, dann schwanken die eigenen Gefühle zwischen Protest und Melancholie.

Speziell in den ehemals bewohnten Gebäuden finden sich kleine Dinge, die zum Nachdenken anregen: Warum wurde das Familienalbum auf dem Küchentisch zurückgelassen? Wer nutzte die Krücken dort in der Ecke? Irgendwann sind für Ingo und Freddie diese Details wichtiger, als die Gebäude selbst. Hier werden Geschichten erzählt, auch wenn sich diese nur in den Köpfen der Urban Explorer abspielen. Diese Suche nach Geschichten ist wahrscheinlich in allen Menschen verankert und deshalb auch der Grund, warum es Touristen immer wieder in die Geisterstadt bei Tschernobyl treibt. Wäre dieser morbide Charme nicht unheimlich faszinierend für die beiden Urban Explorer Ingo und Freddie? Letzterer lacht. Das seien bestimmt schon interessante Motive. Aber entdecken könnte man dort wohl nicht mehr viel. Da fahre er lieber an die chinesische Mauer. Dort würde man auch nicht Gefahr laufen, verstrahlt zu werden.

Johannes Hahn

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