Vor einem Jahrhundert in Kürenz

„Fasadenzeichnung zum Neubau Georg Kunze gehörig“ steht auf den Bauplänen vom August 1913. Das Haus in der Avelsbacher Straße 31 wurde 1914 fertiggestellt.Wer den unteren Teil der Avelsbacher Straße in Kürenz nur vom Stau vor der Eisenbahnunterführung her kennt, der mag sich schwer vorstellen können, in welch ländlicher Lage die Bauherren vor genau 100 Jahren hier ihre Häuser bezogen. Die gedankliche Rekonstruktion gelingt, wenn man sich mit der historischen und städtebaulichen Situation im nördlichsten Teil des damals noch eigenständigen Dorfes Kürenz beschäftigt, was dank der Chronik über den Stadtteil, die Hiltrud Holzberger 2008 herausgab, möglich ist. Ein Gastbeitrag von Veronika Verbeek, die dort ein Haus bewohnt, das vor einem Jahrhundert – zu Beginn des 1. Weltkriegs – erbaut wurde.

KÜRENZ. Der Trierer Generalbebauungsplan von 1900 sah im nördlichen Teil von Kürenz Stadterweiterungsflächen vor. Das neue Baugebiet in der Nähe der Bahnlinie nach Koblenz schloss allein über die Nellstraße an das Dorf Kürenz an, das im Oberdorf (Schlossstraße) und im Unterdorf (untere Domänenstraße) durch Landwirtschaft und Handwerk geprägt war.

Bis zum Beginn des ersten Weltkriegs entstanden so nach und nach in der Rosenstraße, in der Nellstraße und in der unteren Avelsbacher Straße mehrgeschossige Wohnhäuser mit Erkern, verschieferten Dachpartien und kleinen Vorgärten. Die Häuser sind durch die Reformarchitektur geprägt, welche sich mit schlichten Formen und klaren Linien vom Historizismus des vorausgegangenen Jahrhunderts abgrenzte. Der Blick aus den Häusern fiel damals noch frei auf Gärten und Felder in Richtung St. Paulin und nach „Nells Ländchen“.

Man muss sich die Besitzer der neuen Häuser sehr stolz vorstellen: Was die Grundstückspreise betrifft, hatten sie ein Schnäppchen gemacht. Die Haustechnik der schmucken Häuser war auf dem neusten Stand. Denn sicher profitierten die Neubauten davon, dass Kürenz ab 1905 an die städtische Wasserversorgung, ab 1913 an die Elektrizität und ab 1914 an die Kanalisation angeschlossen wurde.

Die Bauherren – häufig Verwaltungsbeamte und Bedienstete der Reichsbahn – waren mit ihren Familien wohl „aufs Dorf“ gezogen, doch dieses Dorf hatte offiziell den Status eines Vorortes und verstädterte zunehmend. 1900 war in Kürenz das Walzwerk gegründet worden, die Weinbaudomäne Avelsbach wurde aufwändig angelegt, einer der beiden Zugänge zur Stadt Trier, die Eisenbahnunterführung in der Avelsbacher Straße, war fertiggestellt, der Bau eines neuen Schulgebäudes in der Soterstraße für die über 700 Volksschüler schon fortgeschritten. Nah an den Häusern verlief die Bahnlinie, die Mobilität und wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierte.

Die historisch zusammenhängende Wohnbebauung endete im Jahre 1914 in der Avelsbacher Straße in Richtung Grüneberg mit dem Haus Nr. 31. Hin zu den Hängen des Grünebergs und des Petrisbergs lagen nur sehr vereinzelte Gebäude (wie die Tabaksmühle) inmitten von Obstwiesen und Feldern. Die obere Domänenstraße war überhaupt noch nicht bebaut. Der Avelsbach verlief durchgängig oberirdisch auf seinem Weg in die Mosel. Tarforst lag drei Kilometer entfernt, die man zu Fuß oder auf dem Pferdewagen zurücklegte.

Auch dieses letzte Haus in Richtung Grüneberg war vom in Kürenz ansässigen und bauunternehmerisch rege tätigen Hubert Jacobs errichtet worden, der mit dem Angebot schlüsselfertigen Bauens und dem Vertrieb von wasserdichtem Zementmörtel für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlich war. Die Baumaterialien bestanden aus Ziegelstein, Eichenholz und Schiefer. Die handschriftlich dokumentierte Statistik des Hauses passte auf ein DIN A4 Blatt. Und dennoch muss man sich das konkrete Bauen auf einfachen Holzgerüsten mit den kleinen Ziegelsteinen, die im Verbund so aufeinandergeschichtet wurden, dass daraus dicke Wände entstanden, als gewagtes Unterfangen in schwindelerregender Höhe vorstellen. Der Bauunternehmer Jacobs, der auch die Malerei und das Kunsthandwerk beherrschte, dekorierte die Häuser gerne mit Jugendstilornamenten. Hausbesitzer der Avelsbacher Straße 31 war der Telegrafenassistent Georg Kunze, der mit eigenen Vorstellungen die Überarbeitung der Baupläne vom August 1913 erforderlich machte und auf verspielte Elemente an seinem Haus verzichtete.

Der Krieg war in Kürenz täglich präsent

Der Einzug in das neue Haus im Jahr 1914 fiel ziemlich genau in die Zeit, als im August der 1. Weltkrieg ausbrach. Die junge Familie war von der Jüdemerstraße in der Innenstadt von Trier nach Kürenz in eine Straße gezogen, wo der Krieg nicht weit weg, sondern durch die spezifische Lage täglich präsent war.

Auch im Dorf Kürenz muss man sich die Stimmung zu Zeiten der Mobilmachung euphorisch vorstellen. Durch den Exerzierplatz am Grüneberg gehörte Militär zum Dorfalltag. Seit der Heereserweiterung 1913 kamen nun noch mehr preußische Soldaten zu Fuß oder zu Pferd durch die Kürenzer Straßen, wurden ab und an von Regimentsmusik begleitet und zogen Zuschauerscharen im Dorf an.

Auch die Schrecken, die der Krieg zunehmend verursachte, wurden gerade in dem neuen Wohngebiet zwischen Walzwerk und Eisenbahnunterführung unmittelbar erfahren. Kürenz war allein durch die Bahnhofsnähe und durch die Industrieanlagen zwischen 1914 und 1918 Ziel von Bombenangriffen. Im Walzwerk in unmittelbarer Nachbarschaft kam es 1915 und 1916 zu Zerstörungen. Auch die Flakanlagen auf dem Grüneberg und dem Petrisberg richteten Schäden im Dorf an. Die Bahnlinie, die direkt an den Häusern in der Rosenstraße, in der Nellstraße und in der unteren Avelsbacher Straße vorbeiführte, brachte die Soldaten an die Westfront. 82 Kürenzer verloren im 1. Weltkrieg ihr Leben.

Nach dem kriegsbedingten Baustopp mit dem Haus Nr. 31 wurde 1920 zunächst der Betriebshof der Reichsbahn vom Hauptbahnhof auf die bis dato landwirtschaftlich genutzten Flächen zwischen Avelsbacher Straße und Metternichstraße umgesiedelt. Die Eisenbahngenossenschaft bebaute später die gesamte gegenüberliegende Straßenseite zwischen der Nr. 38 und 48 mit Wohnblöcken für Reichsbahnmitarbeiter. Die Bebauung sollte sich vorrangig nach dem 2. Weltkrieg über das Aveler Tal fortsetzen. Heute wohnen 15.000 Einwohner mehr in den Höhenstadtteilen Neukürenz, Tarforst und Irsch als im Jahre 1914.

Die Häuser in der Avelsbacher Straße 29 bis 31 standen 1914 am Stadtrand des Vororts Kürenz.Den unverbauten Blick über die Stadt und auf die Wiesen des Petrisbergs hat man nur noch (oder: immerhin noch) aus den obersten Etagen des Hauses. Und trotz einer enorm nachteiligen Veränderung der Wohnlage an einer der Zufahrtsstraße in die Innenstadt sind große Teile des Hauses Nr. 31 seit 100 Jahren unverändert geblieben.

Der im Jahre 1914 beim Einzug der Familie zweijährige Sohn des Telegrafenassistenten Kunze sollte nämlich bis zu seinem Lebensende im Jahre 1999 im Haus seines Vaters wohnen bleiben. Und er sollte in diesen 85 Jahren dort keine baulichen Veränderungen vornehmen. Außerhalb der eigentlichen Wohnungen finden sich noch heute, 15 Jahre nach dem Besitzerwechsel, viele historische Spuren aus dem Baujahr 1914, die als Ausdruck nachhaltigen Bauens weiterhin bestehen bleiben werden.

Betritt man das Gebäude von der lärmig-hektischen Avelsbacher Straße aus, dann erlebt man zunächst einmal einen Zeitensprung in einem Treppenhaus mit Terrazzoboden, der 100 Jahre alten Eichenholztreppe, schokobraunem Geländer und den kalkig-grauen Wänden mit Bakelit-Lichtschaltern. Auf jedem der drei Zwischengeschosse finden sich „Aborte“. Noch heute steigt man wie vor 100 Jahren durch eine Brettertür in einen dunklen Keller mit Stampfboden, preußischer Kappendecke, tragenden unverputzten Zwischenwänden und eingezogenen Lattenverschlägen. In den ersten Jahren nach unserem Einzug haben wir in den Wohnräumen noch mit Holz und Kohle geheizt und die in der nahegelegenen Kohlehandlung erstandenen Säcke von der Straßenseite in die Kellerluken geschüttet.

Die Gartenfront des Hauses, bis 1960 angeblich nur verputzt, der zementierte Hof, die beidseitigen langen Brandwände und das gemauerte Wirtschaftsgebäude mit Brettertüren sind bis heute baulich unverändert. (Zugeständnisse machten wir aus schallschutztechnischen Gründen natürlich an Fenstern und Türen.)

Angesichts weißer Neubausiedlungen mit höchst fragwürdigen, vermeintlich „ökologischen“ Baumaterialen beindruckt uns zutiefst die nachweislich nachhaltige Bauweise dieser Häuser. Und ein Haus, das in stoischer Ruhe oberflächlichen Moden trotzt, hat eine starke Wirkung.

Von der Stadt wünschen wir uns ein Bewusstsein darüber, dass das Wohnen in traditionsreichen Häusern oft auch ein Wohnen an befahrenen Straßen bedeutet. Eine in allen Teilen der Stadt entschieden positionierte Verkehrspolitik zugunsten der Anwohner ist die einzige Lösung, um den nachhaltigen Wohnwert der Häuser zu erhalten, die Geschichten in sich tragen und Trier in den Stadtteilen optisch attraktiv machen.

Veronika Verbeek

Historische Informationen aus: Hiltrud Holzberger (Hg.). Kürenz: Chronik eines Trierer Stadtteils. Kliomedia, Trier. 2008.

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